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Erzpriester John Meyendorff: „Die Orthodoxe Kirche sieht sich selbst als Bewahrerin einer Erlösungsvision, die im wesentlichen mit der ursprünglichen christlichen Offenbarung übereinstimmt“

 

Der christl. Glaube ist der Glaube einer Gemeinschaft, die ihren Anfang mit der Gruppe von Jüngern nahm, die Jesus selbst um sich scharte und die zu Pfingsten nach der Auferstehung die Gabe des Geistes empfing (Act 2). Dieser Geist ist der Geist Christi und der Geist der Wahrheit, der »bleibt und sein wird« (Joh 14,17) und der – trotz aller Schwächen und Unvoll­kommenheiten des einzelnen wie der hist. Gruppen – in dieser und durch diese Gemeinschaft spricht, die sich ‘in Christus’ versammelt. Bes. wenn sie die Eucharistie feiert, ist die Ge­mein­schaft eine eschatologische, in der in Vorwegnahme der Parusie das Reich Gottes erfah­ren werden kann. Die Orth. Kirche sieht sich selbst als Bewahrerin einer Erlösungsvision, die im wesentlichen mit der ursprünglichen christl. Offenbarung übereinstimmt, und ihrer ekkle­siologischen, anthropologischen und trinitarischen Sinnprägungen.

 

1. Im Sprachgebrauch moderner orth. Theologen bezeichnet der Begriff eucharistische Ekkle­siologie eine bestimmte Interpretation des frühen – apostolischen und nachapostolischen – christl. Gemeinschaftsverständnisses. Er dient auch der Erklärung des besonderen ekklesio­logischen Standpunktes der orth. Kirche gegenüber dem westl. Christentum.

 

Der nt.liche Gebrauch des Wortes ‘Kirche’ (ekklēsia) benennt v.a. eine lokale Versammlung, ein Zusammenkommen an einen besonderen Ort (ekklēsía toũ teoũ hē oúsa en Korintō, 1 Kor 1,2), obgleich es auch – z.B. im Eph und Kol – kosmische Dimensionen annehmen kann. Ein­zeln sind Christen ‘Glieder’, aber zusammen sind sie ‘Leib’ – nicht ein partielles Sichtbar­wer­den, sondern der ganze Leib mit Christus als dem Haupt. Diese Ganzheit bedeutet nicht geo­graphische Universalität. Sie wird am Ort offenbar, wann immer ‘zwei oder drei’ in Chri­stus versammelt sind, und sie ist der wesentliche Sinn der eucharistischen Feier. Da Christus selbst das Haupt des Leibes ist, ist jede lokale eucharistische Versammlung ein kosmisches und eschatologisches Ereignis, denn – nach einer Formulierung des Ignatius von Antiochien – »Wo Christus ist, ist die ‘kath.’ Kirche« (IgnSm 8,2), und in jeder Orts-»Kirche« wird die ‘Ganzheit’ oder ‘Katholizität’ des Leibes offenbar.

 

Wo sich das Christentum ausbreitete, bildeten sich lokale eucharistische Gemeinschaften. Gegen Ende des 2.Jh.s wiesen praktisch alle eine einheitliche Struktur auf: ein vorsitzender Bischof und um ihn Presbyter und Diakone. Diese Strukturgleichheit wurde durch die ‘eucha­ristische’ Einheit jeder Ortskirche bestimmt: Die eucharistische Versammlung erforderte einen ‘Vorsteher’ (proistámenos), der als Ebenbild des Herrn selbst, als Lehrer, Hirte und Hoherpriester angesehen wurde. Die ‘Katholizität’ jeder Ortskirche erforderte Gleichheit und Kontinuität sowohl zur ursprünglichen Predigt der Apostel (kḗrygma) als auch zur Lehre (dógma) aller Kirchen. Die Einheit mit der apostolischen Predigt kam in der Kontinuität des episkopalen Amtes und den Aposteln (Clemens, Irenäus) zum Ausdruck; die Glaubenseinheit zwischen allen Kirchen erforderte jedoch die Teilnahme mehrerer benachbarter Bischöfe bei der Ordination jedes neuen Bischofs (vgl. Hippolyt) und regelmäßige Konsultationen in Glau­bensfragen zwischen den lokalen Kirchen, bes. in der Form von Konzilien. Konsequenz dieser Ekklesiologie, die sich auf die sakramentale und eschatologische Einheit ‘aller’ euchari­sti­schen Versammlungen und damit auch aller Ortskirchen berief, war die Gleichheit aller Inha­ber des episkopalen Amtes. Man sah jeden Bischof bei der eucharistischen Versammlung wie auf einem Lehrstuhl sitzen, dem »Stuhl Petri« (vgl. Cyprian); und das höchste Wahrheits­zei­chen bei einer Lehr-Kontroverse war die Übereinstimmung einer großen Zahl von Bischö­fen, die im Konzil saßen.

 

Vor diesem Hintergrund ist es offensichtlich, daß die allmähliche Ausformung der Vorstel­lung eines röm. Bischofs, der das ausschließliche Privileg besaß, »Nachfolger Petri« zu sein, Spannungen schuf und schließlich zum Schisma zwischen dem Osten und dem lat. Westen führte. Praktisch entfernte sich auch der Osten von der ursprünglichen ekklesiologischen Struktur: Die meisten Bischöfe übernahmen die führende Stellung in der Verwaltung mehrerer eucharistischer Gemeinschaften (oder ‘Gemeinden’, die von Presbytern geleitet wurden); Bischöfe größerer Städte gewannen Privilegien der Leitung unter ihren Bischofsbrüdern (Erz­bischöfe, Metropoliten, Patriarchen). So wurde die tatsächliche Macht der Bischöfe eigentlich nicht mehr an ihrer Stellung in der lokalen eucharistischen Versammlung gemessen. Doch diese Entwicklungen wurden ‘ad hoc’ gewertet, sie wurden als Sache des praktischen Lebens und nicht als Dogma gesehen. Sie wurden von der Kirche bestimmt und waren ihrer Kontrolle und einem ständigen Wandel unterworfen. Hist. blieb die orth. Kirche eine Gemeinschaft lokaler Kirchen mit gleicher Würde und vereint im Glauben – im Unterschied zum westl. Zentralismus um Rom. Im Licht dieses ekklesiologischen Ansatzes kann das orth. Verständnis von Schrift, Tradition und Lehrautorität verstanden werden.

 

2. Für die christl. Urgemeinschaft gab es keine anderen ‘Schriften’ als die des jüd. Kanons. Mehr und mehr wurden jedoch Schriften, die von einigen Ortskirchen bewahrt und als ‘apo­stolisch’ angesehen wurden, auch in den eucharistischen Versammlungen gelesen und schließ­lich in den Kanon des »NT« aufgenommen. Gegenüber dem Status der at.lichen Bücher, die nicht Teil des ‘kürzeren’ hebr. Kanons waren, gab es Bedenken, und auch gegenüber einigen Schriften, deren Apostolizität behauptet wurde. Noch im 4.Jh. wurde die Apk von der Kirche von Antiochien und Kappadokien nicht anerkannt, sie wurde dann vom ‘trullanischen’ Konzil (692) in den Kanon aufgenommen; dieses Konzil billigte auch den ‘längeren’ at.lichen Kanon mit 3 Makk, aber ohne Weish, Tob und Jdt. Da der Osten an den bitteren Auseinandersetzun­gen um den Kanon keinen Anteil hatte, die die Reformation und Gegenreformation prägten, hat dieses Thema bis heute im Bewußtsein der orth. Kirche etwas Schwebendes bewahrt. Der ‘längere’ Kanon der LXX ist die Standardfassung für die östl. Kirche und wird in der Liturgie benutzt, doch die Bücher, die nicht im hebr. Kanon enthalten sind, gelten als ‘deuterokano­nisch’. Bezeichnenderweise stützt sich die moderne (»synodale«) russ. Übersetzung des AT auf das hebr. Original.

 

3. Die gelassene Haltung gegenüber der Kanonizitätsfrage spiegelt das orth. Traditionsver­ständnis. Der liturg. Gebrauch der Evangelienbücher, die regelmäßigen Schriftlesungen, der bibl. Charakter der meisten patristischen Schriften und hymnischen Dichtungen lassen erken­nen, daß die Schrift als ursprüngliches und unentbehrliches Wort Gottes gilt. Aber die Bibel bleibt das Buch der Kirche. Man ist sich dessen bewußt, daß derselbe Geist, der die Autoren inspirierte, die Kirche bei der Bestimmung des Schriftenkanons leitet – in der Ableh­nung zahlreicher apokrypher Schriften – und in und durch die Kirche spricht in der Bewah­rung der Treue zum Glauben, der »den Heiligen einst übergeben wurde«.

 

Der Begriff ‘hl. Tradition’ ist Ausdruck dieser besonderen Funktion des Geistes. Das sollte nicht mit schlichtem Konservatismus verwechselt werden. Die lebendige Tradition ist unter der Leitung des lebendigen Geistes berufen, neue Fragen zu beantworten und über neue The­men zu entscheiden. Hier liegt die Begründung dafür, daß die frühen Konzile und die Kir­chenväter in ihrer Theologie Begriffe und Zitate aus philos. Systemen ihrer Zeit verwen­deten (z.B. der Begriff homoousios im Nicänum). Diesem ‘nicht-schriftgemäßen’ Vorgehen wurde widersprochen, doch die Väter konnten zeigen, daß der Gebrauch neuer Konzeptionen und neuer Terminologie oft der beste Weg ist, mit der Schrift übereinzustimmen: Nur For­meln der Schrift zu wiederholen ist keine Garantie für Orthodoxie.

 

4. Der übliche Weg, der »apostolischen Tradition« in der Lehre Ausdruck zu geben, ist – wie Irenäus und Tertullian bewiesen haben –, daß die Bi­schöfe sie in ihrem »eucharistischen Pre­digen« bewahren und die Auseinandersetzungen durch Konzile regeln. Doch die Erfahrung zeigt in der Geschichte unzählige Beispiele von ketzerischen Bischöfen und ‘Pseudo-Konzi­len’, die falsche Lehren verkünden. Es gibt selbst so extreme Fälle, daß – z.B. im Fall des Maximus Confessor (648) – ein einzelner der Wahr­heit treu blieb, während alle Bischöfe eine Häresie annahmen. Dies ist der Grund, warum die orth. Kirche die Unfehlbarkeit einer Per­sönlichkeit oder einer Institution ‘ex sese’ nicht aner­kennt. Selbst Konzile, die als ökum. zusammentraten und die höchste Autoritätsinstanz dar­stellten, besitzen nicht automatisch Unfehlbarkeit. Diese muß Ziel der vom Geist geleiteten ‘Einsicht’ der ganzen Kirche sein. Die Schrift muß, um richtig verstanden zu werden, unter Leitung des Geistes gelesen werden – er inspiriert die Autoren – und im Erfahrungskontext der Kirche. Das gibt Raum für eine kriti­sche Interpretation literarischer Gattungen in der Schrift und allg. für eine angemessene An­wendung moderner kritischer Methoden der Exe­gese, da der Geist offen ist, sowohl ‘gelehrte’ wie auch einfache Leser zu leiten. Liturg. Texte und deren praktischer Gebrauch sind die sichersten ‘Kriterien’ der Tradition – nicht nur weil, wie Irenäus schrieb, »unsere Lehre der Eucharistie entspricht« (adv. haer. IV, 18,5), sondern weil sie die Kontinuität des apostoli­schen Glaubens durch die Jh.e spiegeln. Jedoch auch sie bedürfen der hist. Einsicht – sogar mehr als die Schrift! –, damit ihre wirkliche und authenti­sche Bedeutung angemessen erfaßt werden kann.

 

5. Nur im christologischen Kontext, der wiederum selbst nicht vom »theozentrischen« Ver­ständnis menschlicher Natur getrennt werden kann, haben »eucharistische« Ekklesiologie und das Traditionskonzept in der Orthodoxie einen Sinn. In der östl. patristischen Tradition ist der Mensch von Gott erdacht und erschaffen, nicht autonom: Seine Existenz selbst bedeutet Ein­heit mit dem Schöpfer, da er geschaffen wurde »nach dem Bilde Gottes« (Gen 1,27). Da Gott »allein Unsterblichkeit hat« (1 Tim 6,16), lebt der Mensch nur dadurch, daß er Anteil hat am Leben Gottes, es sei denn, er entscheidet sich für Autonomie und Autarkie. Eine solche Ent­schei­dung – vorgestellt in der bibl. Geschichte vom Sündenfall Adams und Evas (Gen 3) – bedeu­tet Verfall und Tod, denn der Mensch besitzt sein Leben nicht selbst.

 

Dieses östl. Verständnis des Ursprungs und der Bestimmung des Menschen weicht von den vorherrschenden Trends westl. Denkens, erkennbar in der augustinischen Tradition und später in der Scholastik und in der Reformation, deutlich ab. Es kennt nicht den klaren Gegensatz zwischen »Natur« und »Gnade«, da die menschliche Natur – das Sein des Menschen selbst – Teilhabe an Gott bedeutet, d.h. »Gnade«. Ohne Gemeinschaft mit Gott verliert der Mensch seine Menschlichkeit. Auch wird die Sünde Adams und Evas nicht als übertragbare »Schuld« interpretiert, die Vergeltung verlangt. Vielmehr hatte ihre Auflehnung ihre Sterblichkeit und die ihrer Kinder und eine neue kosmische Situation zur Folge, in der die Schlange die Macht Gottes an sich gerissen hat und der Mensch nicht mehr volle Freiheit genießt, sondern abhän­gig geworden ist vom Zwang, ständig um sein Überleben zu kämpfen. In der Tat »herrschte der Tod von Adam an bis zu Mose sogar über die, welche nicht mit gleicher Übertretung ge­sündigt hatten wie Adam« (Röm 5,14). Die ‘gefallene’ Menschheit ist eher eine versklavte als eine ‘schuldige’ Menschheit, obwohl Sünde im Zustand des ‘Gefallenseins’ unvermeidlich ist.

 

Erlösung von diesem Zustand der Sterblichkeit, Abhängigkeit und Versklavung ist in Christus gegenwärtig. Sie wird eher in der Vorstellung vom Heilen, wiederhergestellter Gemeinschaft und ‘neuem Leben’ denn als ‘Rechtfertigung’ verstanden. Der Annahme menschlicher Ver­gänglichkeit und sogar des Todes durch den Sohn Gottes folgte seine Auferstehung und Ver­herrlichung. »Indem wir mit ihm begraben worden sind in der Taufe« (Kol 2,12), empfan­gen wir wieder göttliches Leben, denn in ihm wurden Göttlichkeit und Menschlichkeit wiederver­eint. Das Leben des Menschen gewinnt seine »theozentrische« Natur zurück, für die er ur­sprünglich geschaffen war. Seit Christus starb und auferstand, »ist unser Leben mit Christus in Gott verborgen« (Kol 3,3), doch durch den Glauben wird es im »Mysterium« der Kirche auf Erden erreichbar.

Ein solches Konzept menschlicher Bestimmung und Erlösung gründete sich auf die göttliche Identität der Person Christi – auch wenn die patristischen Autoren nie die Notwendigkeit oder auch Möglichkeit sahen, diese in einem philos.-logischen System zu beschreiben –, dem Hauptthema in den endlosen christologischen Kontroversen vom 4. bis zum 8.Jh. Einerseits konnte nur Gott und kein Geschöpf den Tod überwinden und der »Retter« sein. So war Jesus Gott, »einerlei Wesens« (homooúsios) mit dem Vater, und seine Mutter Maria war »Mutter Gottes«. Er, der selbst Gott war, starb im Fleisch (Theopaschismus). Andererseits mußte er ‘unser’ Menschsein annehmen (weil »nicht gerettet ist, was nicht angenommen ist«), d.h. die gefallene sterbliche Menschlichkeit, die der Erlösung bedurfte. In dieser Menschlichkeit starb er und wurde in den Himmel aufgenommen. Die chalcedonensische Christologie (451) bestä­tigte deshalb die »zwei Naturen« in Christus, die vereint sind in der einen ‘Hypostasis’ oder Person des göttlichen Logos. Dieser ‘hohen’ Christologie, die sowohl in orth. hymnischen Texten wie auch in patristischer Theologie verkündet wird, wird oft vorgehalten, sie sei »kryptomonophysitisch«: Besteht nicht die Gefahr, Christi Menschsein zu überschätzen, wenn seine göttliche Identität betont wird? Das ist nicht der Fall, wenn die »theozentrische« Anthro­pologie – wie oben angedeutet – ernstgenommen wird: Durch seine Aufnahme durch den Logos wird Jesu Menschsein eher verstärkt als vermindert. Tatsächlich begründet die Tren­nung von Gott »Gefallensein« und Entmenschlichung, während Jesus als Sohn Gottes auch der »neue Adam« ist – der wahre Mensch. Auch die Formulierung von Chalcedon bestätigte, daß »die charakteristischen Eigenschaften« des Menschseins in Jesus bewahrt blieben; und die spätere orth. Theologie bestimmt bes., daß zu jenen »Eigenschaften« auch der Zustand des Gefallenseins, d.h. in erster Linie Vergänglichkeit und Sterblichkeit, gehören. Die Häresie des »Aphtartodoketismus«, welche die Inkorruptibilität des Leibes Christi seit seiner Geburt be­hauptete, wurde klar abgewiesen. »Das Wort nahm die unwissende und abhängige Natur an«, schrieb Johannes von Damaskus (De fide orth. 3,21; PG 94,1084 BC). Das natürliche Heran­wachsen Jesu vom Kind zum Erwachsenen und sein ganzes Leben waren das eines Menschen – aber ohne Sünde. Er war Gott selbst und starb doch am Kreuz in der gefallenen vergängli­chen Natur, die er angenommen hatte. Doch weil dieser Tod in Freiheit der ‘Tod Gottes’ war, folgte ihm die Auferstehung in einer erneuerten, unzerstörbaren und verherrlichten Natur – der Natur Adams vor dem Sündenfall.

 

In Taufe und Eucharistie wird diese erneuerte und verwandelte Menschlichkeit Christi durch den Hl. Geist denen zugänglich, die glauben. Diese Gegenwart Christi in der Kirche – seinem Leib – ist Gedenken seines Todes, aber doch auch eine Vorwegnahme seines zweiten Kom­mens, eine eschatologische Gegenwart. Es ist bezeichnend, wie der eucharistische Kanon, der Johannes Chrysostomus zugeschrieben wird, an Tod und Auferstehung Jesu zusammen erin­nert, aber ebenso an sein Wiederkommen, so als ob dieses alles schon vollen­det sei. Diese Dimension der »verwirklichten Eschatologie« ist die eigentliche Basis für das, was man die orth. spirituelle Erfahrung nennen kann. Zwei Episoden aus der Geschichte des östl. Christen­tums können als Beispiele dienen: die Bildersturm-Krise im 8. und 9.Jh. und die sog. »hesy­chastische Kontroverse« im 14.Jh.

 

6. Die Bilderstürmer wollten die Verehrung von Bildern in der Kirche unterdrücken und stütz­ten ihre Argumente auf das mosaische Verbot von »Götzenbildern«. Im Christentum wie im AT kann es kein »Bild« des transzendenten Gottes geben. Die Antwort der Orthodoxen be­stand darin, daß sie die Wirklichkeit der Inkarnation verkündeten: Gott wurde Mensch und ist durch die Menschlichkeit Jesu Christi sichtbar geworden. Das Bild Christi ist folglich ein Be­kenntnis des Glaubens an die Inkarnation: Es zeigt die verherrlichte Menschlichkeit, wie sie die Augenzeugen, die Apostel, sahen. Doch dieselbe verwandelte Menschlichkeit kann auch in den Bildern von Heiligen betrachtet werden, die in ihrem Leben das »gefallene Bild« wie­derherstellten zu seiner »früheren Schönheit«. So wurde die Verehrung von Bildern – oder »Ikonen« – in der orth. Kirche ein wichtiges Element im Gottesdienst und in der Bekräftigung, daß das »Bild Gottes« in Jesus Christus wiederhergestellt wurde und durch ihn auch in den hl. Personen wie seiner Mutter und allen Heiligen.

 

7. Die theol. Debatten des 14.Jh.s waren eine Ausweitung derselben theol. Voraussetzungen. In ihnen ging es bes. um den Begriff »Vergöttlichung« oder »Theosis«. In der griech. Patristik diente dieser Begriff seit Irenäus und Athanasius zur Bestimmung der menschli­chen Teilhabe am göttlichen Leben in Christus. In der mönchischen Tradition der ‘Hesychasten’ wurde das mögliche »Kennen« und »Sehen« Gottes als Ziel christl. Lebens verstanden. Die Vision Got­tes »im Herzen« des Getauften in der Form des Lichts – ähnlich dem Licht, das die Apostel auf dem Berg der Verklärung sahen (Mt 17, 1-8 par.) – wurde als wirkliche Erfah­rung Gottes erklärt, nicht als Symbol oder geistiges Bild, wie die Gegner der Hesychasten behaupteten. Um gleichzeitig die absolute Transzendenz des göttlichen Wesens zu bewahren, bekräftigte der byz. Theologe Gregor Palamas die Unterscheidung Gottes in das unsichtbare und uner­reichbare göttliche Wesen und die »Energien« Gottes, welche die »Ver­göttlichung« von Geschöpfen und ihre wirkliche Gemeinschaft mit dem Schöpfer ermögli­chen.

 

8. Orth. Christologie ist eigentlich nicht zu verstehen, wenn nicht die Rolle des hl. Geistes in der Erlösungs-»Ökonomie« – der Manifestation Gottes als Trinität – genau erkannt ist. »Der Vater tut alle Dinge durch das Wort im Hl. Geist«, schreibt Athanasius (Ad Serap. 1,28; PG 26,596 A). Erlösung ereignet sich in Wirklichkeit durch ein hist. Geschehen – den Tod und die Auferstehung Jesu Christi –, doch die Aneignung, die »kath.« Annahme der Erlösung ge­schieht nur, wenn jeder einzelne Mensch in seinem Herzen den Geist empfängt, der »Abba, Vater!« (Gal 4,6) ruft. Durch den Geist ist der Leib Christi nicht mehr nur an eine hist. Person, Jesus, gebunden, sondern vereint in ihm alle Glaubenden. Diese Rolle des Geistes in der »neu­en Schöpfung« basiert natürlich auf seiner Teilhabe auch an der Urschöpfung: In den liturg. Texten der Orthodoxie wird die kosmische Dimension der Erlösung stark betont – z.B. im Gebet um Segnung des Wassers zu Epiphanias (6. Jan.).

 

In der östl. patristischen Tradition bedeutet die Wiederherstellung der Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch »Kooperation« (synérgeia) zwischen göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit; und die ganz besondere Funktion des Geistes liegt darin, die persönliche Antwort des Menschen zur Gnade zu »treffen«. Die eucharistische Gemeinschaft (koinonía) ist in ganz besonderer Weise die Gabe des Geistes. Zu jedem sakramentalen Akt, angefangen bei der Taufe, gehört nach östl. liturg. Tradition eine besondere Anrufung des Geistes; und der eucha­ristische Kanon erreicht seinen Höhepunkt mit der Epiklese (Anaphora von Basilius d. Gr.).

An den Vater gerichtet und die schöpferische und erlösende Tat des Sohnes in Erinnerung rufend, schließt das eucharistische Gebet mit der Anrufung des Geistes und offenbart so die wahre Natur der Kirche als einer freien Versammlung von Gläubigen, die durch den Geist der wahre Leib Christi zur Erlösung der Welt werden.

 

Im eucharistischen Gebet kommt der trinitarische Charakter des Glaubens klar zum Aus­druck, der in allen Aspekten der Spiritualität zu erkennen ist. »Sobald ich den einen erfasse« schreibt Gregor von Nazianz, »bin ich umleuchtet vom Glanz der drei; sobald ich sie unter­scheide, werde ich zu dem einen zurückgetragen. Wenn ich an einen der drei denke, denke ich an Ihn ganz, und meine Augen sind gefüllt, und der größere Teil meiner Gedanken entflieht mir« (Orat. 40,41; PG 35,417 BC). So ist die Trinität nicht eine Sache philos. Speku­lation, sondern der existentielle und soteriologische Grundgehalt christl. Offenbarung. Der Glaube beginnt mit dem Erkennen Jesu als dem Messias und Gottessohn (vgl. das Bekenntnis des Petrus Mt 16,16). Dieses Erkennen selbst ist schon Sache des Geistes, denn »niemand kann sagen: Herr ist Jesus, außer im hl. Geist« (1 Kor 12,3), und Gemeinschaft im Geist führt uns zum Vater. Zur Beschreibung der drei göttlichen Personen gebrauchten die Kappadokier den griech. Be­griff hypóstasis (»konkrete Wirklichkeit«). Die Lehre der »drei hypostaseis« erschien vielen als ein ‘de-facto’-Tritheismus, und die Väter mußten verdeutlichen, daß die Gemein­schaft des Wesens (ousía) zwischen den drei Personen die göttliche Einheit bestätigte und »Ko-Inhä­renz« (perichṓrēsis), miteinander Verhaftetsein, der drei Personen bedeutet – eine vollkom­mene Einheit des Handelns ohne Vermischung oder Verschmelzung. Diese un­vermischte Einheit kommt am besten in der johanneischen Formel zum Ausdruck, daß »Gott Liebe ist« (1 Joh 4,8). Ein absoluter Monotheismus ohne die trinitarische Dimension ließe diese Formel nicht gelten. Weil Gott vollkommene Liebe ist, sind die drei ‘hypostaseis’ in Wirklichkeit ein Gott, während die drei geschöpflichen ‘hypostaseis’ – d.h. drei Menschen – unterschiedliche Wesen bleiben und nicht eins werden. Doch auch sie könnten in Christus durch Liebe »eins« werden.

 

Hier mag an einen weiteren grundlegenden Aspekt im Denken der griech. Patristik erinnert werden: seinen »apophatischen« Charakter. Die trinitarische Wirklichkeit, in der das eigent­liche Wesen Gottes zum Ausdruck kommt, ist transzendent und daher durch geschöpfliche Kategorien nicht faßbar. Darum kann sie am besten negativ ausgesagt werden, indem gesagt wird, was Gott ‘nicht’ ist. Doch Gott offenbart sein trinitarisches Sein bes. durch die Inkar­nation und öffnet es der Teilhabe: »ich in ihnen und du in mir – damit sie vollkommen eins seien« (Joh 17,23). Die vollkommene Liebe, die Vater, Sohn und den Hl. Geist eint, wird den Geschöpfen dargeboten und rechtfertigt einen Ausspruch, der unter russ. Theologen des 19. Jh.s umging: »Die Trinität ist unser Sozialprogramm«. Dieser Ansatz ist aber nur dann ge­rechtfertigt, wenn Gottes Transzendenz nicht außer acht gelassen wird: Er kann nie einfach »imitiert« werden, es gibt nur die Teilhabe an ihm. In der Gemeinschaft der Kirche können Menschen nur »Haushalter über die Geheimnisse Gottes« sein (1 Kor 4,1).

 

9. Zeitgenössisches orth. Denken und Ethos standen unvermeidlich unter dem Einfluß hist. Entwicklungen wie den späten byz. und ma. Kulturformen und unter dem Eindruck westl. Denkens und säkularer »Aufklärung« (vgl. den Nationalismus moderner osteurop. Völker). Doch die grundlegende orth. Vision des Christentums ist immer noch die, die in der klassi­schen Periode griech. patristischen Denkens Gestalt gewann. Diese Vision wird bes. in den Zyklen der Liturgie, in hymnischen Texten und in der Spiritualität bewahrt. Daß verschiedene liturg. Sprachen benutzt werden, stärkt nur diese Einheit spiritueller Wahrnehmung, die aus der frühen Christenheit stammt und prinzipiell allen unterschiedlichen Kulturen und Zivilisa­tionen zugänglich ist. Da orth. Ekklesiologie die Existenz einer ständigen unfehlbaren Institu­tion wie des Papsttums nicht erlaubte, liegt die Verantwortung für orth. Geschlossenheit in Glaube und Erfahrung bei der Kirche als ganzer. Tatsächlich überlebten orth. Gemeinschaften während der Jh.e muslimischer Herrschaft im mittleren Osten ohne reguläre Predigt oder geistliche Leitung v.a. durch das Weitergehen des liturg. Lebens. Die Theologie und der geistliche Reichtum der byz. Liturgie ermöglichten dieses Überleben und bewährten sich auch unter den politischen Verhältnissen des 20. Jh.s. Die Liturgie spielt eine ähnliche Rolle in anderen Ländern Osteuropas, wo ‘normale’ theol. Entwicklungen wegen der politischen Um­stände des 20. Jh.s lange nicht möglich waren.

 

Andererseits hat die Kontinuität der mönchischen Tradition mit ihrer Betonung der persönli­chen Gotteserfahrung als Ziel aller geistlichen Bemühungen die Autorität einzelner geistlicher Führer (griech.: gérontes; slav: startsi) bewahrt, die oft, ohne die Autorität der Bischöfe) in Lehr- und Kanonfragen in Zweifel zu ziehen, ein prophetisches Zeugnis ablegen, dessen Autorität und Macht anerkannt wurde – z.B. von Dostojewski u.a. Intellektuellen, die sich zum orth. Christentum im modernen Rußland hingezogen fühlten.

 

Seit dem 17.Jh. wurde jedoch die orth. Theologie in eine unvermeidliche Konfrontation mit dem Westen gestellt. Diese Konfrontation führte gelegentlich zu einer künstlichen Übernahme westl. Kategorien und Vorstellungen – wie bei Patriarch Kyrillos Lukarsis von Konstantinopel, der 1624 ein im Grunde calvinistisches Glaubensbekenntnis veröffentlichte. Et­was ähnliches ereignete sich an der in Kiew errichteten Akademie, wo die Vorstellungen der lat. Gegenrefor­mation oft als orth. angenommen wurden. Doch diese ‘Einimpfung’ westl. Ideen führte schließlich zu einer Wiederbelebung der orth. Identität, die sich in Kategorien modernen Den­kens äußerte. Das geschah einerseits, als im 19.Jh. ein System theol. Ausbil­dung in Erschei­nung trat und sich die hist. und patristische Forschung entwickelte. Anderer­seits entstanden v.a. in Rußland mehrere theol. Schulen für Laien, die allein durch ihre Exi­stenz und ihren Erfolg anschaulich machen, daß – was in der gesamten Geschichte des christl. Ostens offenbar ist – die ganze Kirche und nicht nur ein autoritatives Lehramt für den Glau­ben verantwortlich ist.

 

A. Chomjakow (1804-1860) und I.W. Kirejewskij (1806-1856) – die »älteren Slawophilen« – entfalteten die geistlich-organischen und synodalen Dimensionen der Ekklesiologie (mit dem Begriff ‘Sobornostj’). In den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s versuchte die stärker philos. aus­gerichtete und spekulative Schule von W.S. Solowjew (1853-1900), zu der auch Autoren wie P.A. Florenskij (1882-1940), S.N. Bulgakow (1871-1944) und teilweise auch N.A. Ber­djajew (1874-1948) gehörten, eine eher fragwürdige Synthese von O. und dt. Idealismus, die wieder­um eine »neo-patristische« Reaktion (G. Florovsky, D. Staniloae) herausforderte. Recht ein­flußreich sind heute Autoren, die eine »eucharistische Ekklesiologie« entfalten (N. Afanas­sieff, J. Zizioulas).

 

Es gibt orth. Gemeinschaften in den meisten westl. Ländern und in Staaten der Dritten Welt, und orth. Theologen sind an den meisten Erscheinungen der ökum. Bewegung beteiligt; damit ist die orth. Tradition (heute) eine direktere Herausforderung für zeitgenössisches Denken und selbst wiederum von ihm herausgefordert. Nach Jh.en einer ununterbrochenen Geschichte in Gesellschaften, die – ebenfalls nominell – christl. und orth. waren, steht die Orthodoxie in der Begeg­nung mit der pluralistischen und säkularisierten Welt des zu Ende gehenden 20.Jh.s vor der Prüfung ihrer ‘kath.’ Glaubwürdigkeit (Authentizität).

 

Literatur.: Ostrogorsky, G.: Studien zur Geschichte d. byz. Bilderstreites, Breslau 1929 (Nachdr. Amsterdam 1964) – Smolitsch, I.: Leben u. Lehre d. Starzen, Wien 1936 – Florovsky, G.: Putti russkago bogosloviya, Paris 1937 (Nachdr. Paris 1983) – Ouspensky, L./Lossky, V.: Der Sinn d. Ikonen, Bern 1952 (engl.: The Meaning of Icons, Nachdr. Crestwood/N.Y. 1982) – Lossky, V.: The Mysterical Theology of the Eastern Church, London 1957 (Nachdr. Crest­wood/N.Y. 1975) – Beck, H.G.: Kirche u. theol. Lit. im byz. Reich, München 1959 – Brat­siotis, P. (Hg.): Die orth. Kirche in griech. Sicht, 2 Teile, Stuttgart 1959-1960 – Meyendorff, J.: Introduction à l’études de Grégoire Palamas, Paris 1959 (engl.: A Study of Gregory Pala­mas, Crest­wood/ N.Y. 1964) – Afanas’ev, N./Konlomzina, N./Meyendorff, J.: Der Primat d. Petrus in d. orth. Kirche, Zürich 1961 – Meyendorff, J.: Die orth. Kirche gestern u. heute, Salzburg 1963 – Zer­nov, N.: The Russian Religious Renaissance of the Twentieth Century, New York 1963 – Meyendorff, J.: Orthodoxy and Catholicity, New York 1965 – Völker, W.: Maximus Confes­sor als Meister d. geistlichen Lebens, Wiesbaden 1965 – Schmemann, A.: Introduction to Liturgical Theology, London 1966 (Nachdr. Crestwood/N.Y.) – Meyendorff, J.: Christ in Eastern Christian Thought, New York 1969 (Crestwood/N.Y. 19752; franz.: Le Christ de la théologie byzantine, Paris 1969) – Pelikan, J.: The Christian Tradition: A History of the De­velopment of Doctrine, Vol. I: The Emergence of the Catholic Tradition, Vol. II: The Spirit of the Eastern Christendom (600-1700), Chicago/Ill. 1971 – Florovsky, G.: Bible, Church, Tra­dition (= GWI), Belmont/Mass. 1972 – Schmemann, A.: For the Life of the World, rev. Aus­gabe, Crestwood/N.Y. 1973 – Afanas’ev, N.: L’Eglise du Saint-Esprit, Paris 1975 – Völker, W.: Die Sakramentsmystik d. Nikolaus Kabasilas, Wiesbaden 1977 – Meyendorff, J.: Living Tradition, Crestwood/N.Y. 1978 – ders.: Catholicity and the Church, Crestwood/N.Y. 1980 – Plank, P.: Die Eucharistieversammlung als Kirche. Zur Entstehung u. Entfaltung d. eucharis­stischen Ekklesiologie Nikolaj Afanas’evs (1893-1966), Würzburg 1980 – Staniloae, D.: Theology and the Church, Crestwood/N.Y. 1980 – L’Eglise locale et l’Eglise universelle (Artikelsammlung), Chambésy 1981 – Mantzaridis, G.I.: The Deification of Man. St. Gregory Palamas and Orthodox Tradition, Crestwood/N.Y. 1984 – Spidlik, T.: The Spirituality of the Christian East: A Systematic Handbook, Kalamazoo/Mich. 1985 – Zizioulas, J.: Being as Communion: Studies in Personhood and the Church, Crestwood/N.Y. 1985 – Jensen, A.: Die Zukunft d. O., Köln 1986 (ausführliche Dokumentation d. Entwicklung in d. Vergangenheit, gute Bibliographie) – Meyendorff, J.: Christ’s Humanity: The Paschal Mystery, St. Vladimir’s Theological Quarterly 31 (1987) 5-40 – A Monk of the Eastern Church. The Jesus Prayer, Crestwood/N.Y. 1987.

 

 

Christus ist unser Leben - Der Weg des orthodoxen Christen

 

Das Leben in Christus beginnt mit der Taufe des Gläubigen. Es ist getragen von den Charismen und Gnadengaben des Heiligen Geistes, dessen Siegel wir in der hl. Myronsalbung empfangen haben. Der hl. Porphyrios von Kavsokalivia charakterisiert dieses neu Leben, was wir bei unserem Eintritt in die Kirche, den mystischen Leib Christis auf Erden empfangen haben: „Wenn wir Christus lieben, wird unsere Seele von der jeder Furcht und der Herzenshärte befreit. Wer Christus liebt, meidet die Sünde.“

 

Eine der wichtigsten geistlichen Schriften aus der byzantinischen Epoche unserer Kirche ist „Das Leben in Christus“ des hl. Nikolaos Kabasilas. Dieses Buch ist auch in verschiedenen deutschen Übersetzungen zugänglich (z.B. 978-3-89411-299-8). Neben seiner bekannten Auslegung der Göttlichen Liturgie (Nicolas Cabasila; Explication de la divine liturgie, Paris 1943) gehört seine Schrift das „Leben in Christus“ zu tiefsten und schönsten Ausführungen über das orthodoxe Glaubensleben.

 

Die orthodoxe Theologie und Spiritualität blicken nicht auf philosophische oder mystische Theorien, sondern vielmehr auf das Ziel des christlichen Lebens: Das ewige Leben in der vollkommenen Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott. Der Weg dorthin ist die Verchristlichung unserer gesamten Person, die gnadenhafte Verwandlung des Gläubigen zum Christusträger. Heiligkeit im orthodoxen Verständnis ist deshalb weniger eine sittliche oder gar moralische Kategorie, als vielmehr das immer mehr und mehr gleichförmig werden des Glaubenden mit dem erhöhten Herrn im Heiligen Geist (siehe Bischof Kalistos Ware; Der Aufstieg zu Gott. Glaube und geistliches Leben nach ostkirchlicher Überlieferung, Bern 1998).

 

Der Weg der uns dorthin führt, ist das Leben in Christus. Es ist der Weg der immer inniger werdenden Nachfolge Jesu Christi. In der lebendigen Gemeinschaft mit Christus verwirklicht sich unser orthodoxer Glaube. „Das aber ist das ewige Leben, dass sie Dich, Der Du allein wahrer Gott bist, und Den Du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (Joh. 17:3).

 

Wir haben uns in der hl. Taufe Christus angeschlossen und dessen Gnade empfangen. In der hl. Myronsalbung wurde uns das Siegel des Heiligen Geistes gegeben. Dadurch sind wir befähigt worden, als lebendige Glieder im Leib Christi, der Heiligen Orthodoxen Kirche zu leben.

 

Dieses neue Leben in Christus ist der geistliche Nährboden unserer gesamten Existenz, in den wir durch die hl. Sakramente Taufe und Myronsalbung eingepflanzt und verwurzelt sind. Aus der hl. Eucharistie empfangen wir immer wieder die notwendige Kraft auf unserem weiteren Weg hin zum ewigen Leben.

 

Mit dem Herrn Jesus Christus in innigster Gemeinschaft zu leben, genau das macht einen Menschen überhaupt erst zu einem Christgläubigen. Was dies bedeutet, das erklärt und erläutert uns der hl. Nikolaos Kabasilas in seiner Schrift.

 

Wenn wir darüber zusammen nachdenken wollen, was es eigentlich bedeutet, in Christus zu leben, so möchte ich an den Anfang die Frage setzen: „Was ist eigentlich dieses Leben in Christus?“ Kurz gesagt, ist es die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen Herrn. Es ist die Verwandlung unserer gefallenen Natur in die vergöttlichte menschliche Natur des Herrn Jesus Christus. Es ist ein geistlicher Weg mit dem Ziel, zur Heiligkeit zu gelangen.

 

Dieser geistliche Weg beginnt mit der Herabkunft des Heiligen Geistes auf die versammelten hl. Jünger und Apostel. Hiermit beginnt das Leben der Kirche als der mystische Leib Christi auf Erden. Der Heilige Geist hat mit der Fülle Seiner Gnade inmitten der Kirche Wohnung genommen. Er wird dort bleiben bis zum Ende der Zeiten und das Volk Gottes in alle Wahrheit führen, bewahren und erhalten. Die allheilige Gottesgebärerin und Immerjungfrau Maria empfing den Heiligen Geist schon zur Stunde der Verkündigung. Sie wurde so zur ersten der durch Gottes Gnade Vergöttlichten. Deshalb nennen wir sie „allheilig“.

 

Die Herabkunft des Heiligen Geistes zu Pfingsten lässt dann auch den hl. Jüngern und Aposteln die Gabe der Vergöttlichung und damit auch die Vereinigung mit dem erhöhten Herrn zuteilwerden. Damit wurde aus den Zeugen Christi die hl. Kirche, in der die ganze Fülle und Vollendung der Heilsordnung erfahren wird.

 

Deshalb schenkt der Heilige Geist auch jedem, der an Christus glaubt, die Fülle der Erkenntnis in der Vereinigung mit Gott. Der Herr Jesus Christus Selbst wird im Herzen des Gläubigen gegenwärtig durch die Überkleidung des Gläubigen mit Seiner vergöttlichten menschlichen Natur. Wir sind mit Christus deshalb getauft in Seinen Tod und Seine Auferstehung.

 

Durch das Sakrament der hl. Myronsalbung nimmt der Heilige Geist Wohnung in unserem Herzen. Er verbrennt, wenn wir Ihm gestatten, Seine Gnade in uns vollkommen zu entfalten, mit dem hl. Feuer von Gottes Heiligkeit (vgl.: Lk. 12: 49) alles weg, was den Menschen noch von Christus, dem auferstandenen und zur Rechten Gottes erhöhten Herrn trennt.

 

Das Leben in Christus ist also die gnadenhafte Vereinigung des Gläubigen mit Gott. Das Charakteristikum des Lebens in Christus ist schlechthin die Liebe. Nicht eine weltliche Liebe, sondern die Liebe in Christus, die auch das Opfer und den Verzicht mit einbezieht.

 

Hierin liegt gerade heutzutage, wo alles dem individualistischen Ego und seinem Selfstyling aller Lebensbereiche dienen soll, ein besonders wirkmächtiges Zeichen, was den christlichen Glauben in seinem Wesen ausmacht: Es ist die Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen.

 

Ein Christ zu sein verwirklicht sich in der Annahme des Willen Gottes für unser Leben, nicht aufgrund von Angst oder der Hinnahme eines unpersönlichen Schicksals, sondern vielmehr im vollkommenen, gläubigen Vertrauen auf Gott und Seine alles zum Besten führende Liebe.

 

Das Leben in Christus erstreckt sich deshalb nicht nur auf meine Beziehung zu Gott, sondern wegen Christi Liebe zu allen Menschen -eben auch meinen Nächsten. Ohne diese liebende und opfernde Beziehung meines Lebens zu Gott und dem Nächsten, ist das Leben in Christus im Grunde nicht vorhanden. Erst im Sein für den anderen wird die christliche Liebe zur Praxis in unserem alltäglichen Leben, in allen unseren beruflichen, familiären und sozialen Beziehungen. Denn erst in der Beziehung zum Nächsten zeigen sich die Früchte des geistlichen Lebens. Dort wird der Mensch dann Christus als dem aus Liebe Dienenden immer ähnlicher. Er wird zum Christusträger, wenn er Geduld und Mitgefühl erlernt und zu zeigt, und wenn er Erbarmen und Liebe für seine Mitmenschen entwickelt.

 

Das Leben in Christus ist, verbunden mit dem Gebet, die Öffnung unseres Herzens für die Kraft des Heiligen Geistes und der Göttlichen Gnade.

 

Das Leben in Christus ist wesentlicher Teil des orthodoxen kirchlichen und geistlichen Lebens. Es ist deshalb nicht etwas, das außerhalb der Kirche als dem Leib Christi vollziehen könnte, sondern es ist vielmehr das Leben der Kirche selbst, an dem wir teilnehmen. Hierin liegt ein grundlegender Unterschied zu evangelisch- freikirchlichen Vorstellungen. Die Rechtfertigung ist immer ein kirchlich-gemeinschaftlicher Prozess, der uns als lebendige Steine in den Leib Christi einbindet und in die kirchliche Gemeinschaft hin verortet. „Jesus im Glauben annehmen“ heißt also im orthodoxen Verständnis immer im Leib Christi, der hl. Kirche leben.

 

Das Leben in Christus ist deshalb ein zutiefst ekklesialer Prozess. In der Kirche werden die hl. Sakramente der göttlichen Gnade dem Gläubigen angeboten, auf dass er im Heiligen Geist zu leben vermag. Auf diese Weise wird der Gläubige die Vollendung in Christus erlangen und das paulinische Wort erleben: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2: 19 f.)

 

Unser Herr und Erlöser Jesus Christus ruft uns dazu auf, als Christen nach der Vollkommenheit (der Heiligkeit) zu streben, wie „euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (vgl.: Matth. 5: 48). Zugleich aber weiß der Herr in Seiner Menschenliebe und Barmherzigkeit zutiefst, an welch unvollkommene Wesen er diese Einladung richtet: An gefallene und schwache Menschen, die zu Fehlern und Sünden neigen.

 

Deshalb kommt uns orthodoxen Christen, wenn wir von der Heiligkeit oder den Heiligen reden, unwillkürlich jener Augenblick der Feier der Göttlichen Liturgie in den Sinn, wo der Priester ausruft: „Das Heilige den Heiligen.“ Wenn wir auch nur ein klein wenig gegenüber uns selbst ehrlich sind, so müssen wir uns eingestehen: Keiner von uns ist heilig! Deshalb antwortet das Volk durch die Stimme des Chors: „Einer (nur) ist Heilig, einer ist Herr, Jesus Christus, zur Ehre Gottes des Vaters. Amen.“

 

Wir bekennen damit, dass alle Heiligkeit, jedes Gutsein, von dem Einzig Heiligen und Guten stammt, vom Herrn Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Er ist Gott Selbst, Der die Quelle aller Heiligkeit und Güte ist.

 

Der hl. Apostel Paulus gibt uns deshalb den Ratschlag, dass wir uns Christus zum Vorbild nehmen sollen, wie er selbst sich Christus zum Vorbild genommen hat. (vgl.: 1. Kor. 11: 1).

 

Welche Art von Vorbild bzw. Nachahmung ist dies jedoch und zu welcher Art von Vollkommenheit ruft Christus die Gläubigen auf? Christus lädt uns ein, vollkommen in der Freude Seiner Gegenwart zu sein! In der Freude Seiner Gegenwart zu leben, das ist das Leben in Christus!

 

Als orthodoxe Gläubige glauben wir an den Herrn Jesus Christus als Gott und Retter und nicht nur als einen wunderbaren, ethischen, weisen und guten Menschen, der zwar oberflächlich Gutes tut, uns aber nicht erneuert und errettet.

 

Aus diesem Grunde wird die Heiligkeit in der orthodoxen Kirche auch als eine personale Eigenschaft Gottes verstanden. Gott ist nicht einfach nur heilig, Er besitzt nicht nur das Attribut der Heiligkeit, sondern Er ist in Seinem Wesen der Allheilige. Wenn wir durch Christus in Gemeinschaft mit der Allheiligen Dreieinheit leben, dann strahlt diese Heiligkeit auch auf uns aus durch Seine ungeschaffenen Energien, durch die Gott sich uns offenbart.

 

Das gleiche wie für die Heiligkeit gilt ebenfalls für die göttliche Liebe. Gott liebt nicht nur, sondern Er ist die Liebe (vgl.: 1. Joh. 4: 8). Genauso wie die Heiligkeit, so macht auch die Liebe das eigentliche Sein Gottes aus. Er ist die Überfülle von Liebe. Der hl. Gregor der Theologe sagt: „Weil es dem Allgütigen nicht genügen konnte, Sich in der Betrachtung Seiner Selbst allein zu bewegen, musste sich Gottes Allgüte ausgießen und hinausgehen aus Sich Selbst.“

 

Deshalb erschuf Gott zuerst die Ordnungen der Engel und danach den Menschen. „Gottes Güte musste Sich ausgießen und hinausgehen aus Sich Selbst.“ Hierin liegt der eigentliche Wille der Dreieinigen Gottheit: In der Gemeinschaft mit allem was ist zu leben. Die Seligkeit Gottes ist zwar vollkommen, doch gerade deshalb, weil Gott die Überfülle der Liebe ist, wollte Er, dass Seine Liebe und Güte ausgegossen werde und hinausgehe zu allem, was Er in Seiner Liebe und Güte erschaffen hat. Der hl. Gregor der Theologe fasst es in die Worte: „… damit die Empfänger Seiner Wohltat sich vermehren“.

 

So erschuf Er in Seiner Güte den Menschen als Krone und Hohepriester der gesamten Schöpfung, damit der Mensch als priesterliche Person die Gemeinschaft an dieser göttlichen Seligkeit zu allem, was ist ausstrahlen möge.

 

Gott ist sowohl Liebe, und weil Er die höchste Fülle der Liebe ist, so ist Er auch die vollkommene Freiheit. Freiheit ist aber keine Anarchie, sondern, vielmehr die vollkommene Gemeinschaft, die sich im Leben des dreieinigen Gottes in aller Fülle verwirklicht.

 

Gott liebt in Freiheit und in Seiner übergroßen Liebe schenkt Er uns Anteil an dieser Freiheit. Deshalb beten wir in der Göttlichen Liturgie: „… Aus der Fülle Deines Erbarmens hast Du alle Dinge aus dem Nichtsein ins Dasein gebracht.“ So begabte Gott den Menschen als Sein dialogisches Gegenüber mit Freiheit, Geist und Seele.

 

Gott gab dem Menschen nicht, wie den Tieren, nur einen Körper und Instinkt, sondern er begabte ihn als Sein Abbild durch Geist und der Freiheit, die darin besteht, zu Seinem Ebenbild werden zu können. Gott erschuft den Menschen zur Teilhabe am innergöttlichen Leben, zur Vergöttlichung. Dadurch erhob er den Menschen sogar über die Engel, die zwar als reine Geister Gott schauen, aber nur der Mensch wurde zur Gemeinschaft mit Gott erschaffen und erhoben.

 

Als Gott den Menschen formte, formte Er ihn als ein neues Geschöpf, als Krone Seiner Schöpfung, als Liturg des gesamten Kosmos. Deshalb gab Gott dem Menschen Seinen eigenen Atem und schenkte ihm so das Leben. Damit machte Er uns ein großes, aber zugleich ambivalentes Geschenk: Er gab uns damit zugleich Anteil an Seiner Freiheit. Er wollte, dass der Mensch auf Seine Liebe mit seiner Liebe antwortete. Wenn der Mensch seine Freiheit als Liebe gebraucht; wenn er sein ganzes Sein zur Liebe gegenüber Gott und seinen Mitmenschen werden lässt, aber auch zur Liebe gegenüber den anderen Mitgeschöpfen und allem was ist; wenn der Mensch also seine Liebe gemäß seinem Ebenbild-Gottes-Sein ausgießt; dann gelangt der Mensch in seiner freiheitlichen Antwort auf die göttliche Gnade schrittweise zur Vergöttlichung. Das Hingelangen zu jener Vollendung wird jedoch niemals ein Attribut unseres menschlichen Wesens, sondern es ist immer ein lebenslanges freiheitliches Sein in der Liebe Gottes.

 

Aus diesem Grunde bedarf es auch unbedingt einer Mitarbeit seitens des Menschen im Prozess der Erlösung. Das Leben in Christus ist auch immer eine freiwillige Um- und Rückkehr des Menschen zu Gott. Deshalb sagen uns auch die hl. Väter: nichts Gutes kommt zustande durch Zwang. In einer seiner Predigten stellt der hl. Johannes Chrysostomus deshalb die Frage, warum nicht Christus den Judas Iskarioth zur Umkehr gezwungen habe. Er antwortete: „Christus hätte sehr wohl die Macht, Seinen Jünger zur Umkehr zu veranlassen gehabt, doch Er wollte nicht, dass jener das Gute durch Nötigung tue.“

 

Während Adam freiwillig wider seine eigentliche Natur handelte, handelt unser Herr Jesus Christus freiwillig gemäß der schöpfungsgemäßen menschlichen Natur und gibt uns damit das erhabenste Beispiel des wahren Menschseins. Er zeigt uns, was der Mensch ist, denn der Herr ist zugleich vollkommener Gott und vollkommener Mensch. Der Sohn Gottes wurde Mensch. Er wurde weder ein System, noch das Gesetz, noch eine Theorie, sondern Er wurde Mensch und lebte als Mensch wie wir, doch ohne Sünde, einfach und demütig.

 

Aus diesem Grunde wird auch die Heiligkeit, die uns die Rechtfertigung schenkt, in der orthodoxen Kirche nicht einfach als ethisch-sittliche Kategorie verstanden. Heiligkeit ist eine Gabe des Heiligen Geistes; sie betrifft – wie bereits erklärt - unser persönliches und auch unser kirchliches Sein.

 

Einige Gläubige scheinen aber bisweilen zu glauben, dass das Leben in Christus eine schuldlose Heiligkeit sei, mit dem unmittelbaren Ziel der Vergöttlichung. Hier ruft uns der hl. Apostel und Evangelist Johannes dann in Erinnerung: „Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1. Joh. 1: 8). Wenn wir auf große orthodoxe Heilige wie zum Beispiel auf das Leben der Heiligen Siluan und Paisius vom Heiligen Berg Athos blicken, so erkennen wir sofort, dass kein wirklich Heiliger sich selbst als heilig betrachtet hat. Ganz im Gegenteil: Die Heiligen betrachteten sich stets mit Demut und erkannten dabei, wie wenig heilig jeder Mensch in Wirklichkeit ist und wie viele Sünden und Fehler tagtäglich noch in uns allen stecken. Denn es gelten uns allen die Worte des hl. Johannes Chrysostomus, dass „jener, der sich selbst nicht als vollkommen betrachtet, vollkommen ist.“

 

Unsere Erlösung beginnt und fußt immer auf der Bereitschaft zur Demut. Nicht wir sind in uns vollkommen. Es war gerade die Lüge der Schlange: „Ihr werdet sein wie Gott“. Nur Gott allein ist der Allheilige, der Vollkommene, wir alle aber können nur heilig und vollkommen in dem Sinne werden und sein, dass die Heiligkeit und Vollkommenheit Gottes auf uns scheint und unsere Herzen und Seelen erwärmt, wie es die Strahlen der Sonne tun. Die wahre Heiligkeit ist eine Wirkung unserer Liebesgemeinschaft mit Gott. Sie ist niemals eine künstliche oder verpflichtende Heiligkeit wie jene der Pharisäer, die Äußerlichkeiten verabsolutierten und sich dann selbst als „vollkommen“ wähnten.

 

Der Herr Jesus Christus zeigte uns in Seinem ganzen Lebensbeispiel jenes charakteristische Element echter Heiligkeit, das ihnen fehlte, aber in den Sündern, die bereit waren umzukehren, vorhanden war. Dies aber war nichts geringeres als die Demut, die den Menschen zur echten Reue und wahrhaftigen Umkehr und am Ende schließlich in die Liebe Gottes führt.

 

Das echte Leben in Christus finden wir in der beständigen Umkehr und im Suchen des Erbarmens Gottes. Wir erflehen Sein Erbarmen, nicht um irgendwelche „Fähigkeiten“ zu erwerben, die uns „besser“ als unsere Schwestern und Brüder machen würden. Täuschen wir uns nicht! Der Hochmut ist das innere Gift jeder Sünde! Er lässt uns nur immer eingebildeter werden und verhindert in seinem narzisstisch-selbstüberheblichen Charakter am Ende, dass unsere Seele vor dem Verderben gerettet werden kann. Vladika Antonij von Surosh sagte einmal: „Gott kann den Sünder retten, der du bist, nicht jedoch den Heiligen, für den du dich selbst hältst!“

 

Deshalb ist es notwendig, dass wir den Grund für unsere Umkehr recht verstehen: Gott hat uns trotz unserer Verstrickungen in Sünde und Schuld nicht verlassen. Diese tröstliche Wahrheit darf die Seele des Christen mit Hoffnung, Zuversicht und Freude erfüllen. Es ist dieser Trost, der den verlorenen Sohn ohne zu zögern umkehrten und Christus entgegenlaufen lässt. Diese Umkehr wird uns in die Nähe Christi führen, von Dem wir uns zuvor durch Sünde und Schuld entfernt haben.

 

Ein wichtiger Aspekt unseres Lebens in Christus ist das Gebet, wie es uns von unserem Herrn Jesus Christus selbst und von den hl. Vätern gelehrt worden ist. Das Gebet ist aber nicht selbst das eigentliche Ziel. Es ist vielmehr ein Mittel, wie es auch das Fasten und die übrigen Werke der Frömmigkeit und Askese sind. Unsere Erlösung besteht darin, dass der Mensch in Christus zum Kind Gottes wird. Der hl. Nikolaos Kabasilas sagt darüber: „Mit Seinem Tod hat uns der Erlöser nicht nur befreit und mit Gott versöhnt; Er gab uns auch die Macht, Kinder Gottes zu werden (vgl.: Joh. 1: 12). Er, der unsere (menschliche) Natur mit sich vereinte, indem Er Fleisch annahm, vereint jeden von uns mit Seinem Fleisch. Von jetzt an erkennt der Vater ... in uns die Glieder Seines Einziggeborenen und Er entdeckt auf unseren Gesichtern das Antlitz Seines Sohnes“.

 

Das Buch des hl. Nikolaos Kabasilas über unser Leben in Christus ist auch eine einzigartige Verkündigung unserer Gotteskindschaft. Ein Kind Gottes zu sein (vgl.: Röm. 8: 14-16) macht den Gläubigen zum Erlösten, ein königliches Wesen, das im Hause seines Vaters frei ist, weil es sich nicht nur als dessen Kind erlebt, sondern es auch wirklich ist.

 

Die Realität dieser Gotteskindschaft beinhaltet nicht nur unsere Beziehung zu Gott. Sie verwandelt vielmehr unser ganzes Wesen. Der hl. Nikolaos Kabasilas wird nicht müde, uns an diese alles entscheidende Wirklichkeit zu erinnern: Unsere wirkliche Teilhabe an der Liebe und dem Leben Gottes.

 

Durch Christus, der unsere menschliche Natur annahm und sie dabei vollkommen vergöttlicht hat haben auch wir Anteil am göttlichen Leben in Jesus Christus. Wir sind deshalb auch wahrhaft frei, weil wir in Christus wahre Gotteskinder sind und somit wahrhaft vergöttlicht werden.

 

Die echte Verchristlichung führt uns zur echten Vergöttlichung, weil „Christus die Sklaven befreit und sie zu Gotteskindern macht; denn Er, Der selbst der Sohn und frei von jeder Sünde ist, gibt ihnen Anteil an Seinem Leib, an Seinem Blut, an Seinem Geist und an allem, was zu Ihm gehört. So schafft Er neu, befreit und vergöttlicht, indem Er sich selbst in unser Sein ergießt (und es so) gesund, frei und wahrhaft göttlich“ macht.

 

So beschreibt der hl. Nikolaos Kabasilas unser neugewonnenes Leben in Christus. Man kann die alles verwandelnde Wirklichkeit unserer Erlösung und unserer Rechtfertigung kaum besser in Worte fassen.

 

Priester Thomas Zmija

 

Über das Vater Unser

 

Unser Herr Jesus Christus Selbst lehrt uns das "Gebet des Herrn" zu beten. Häufig suchte der Herr das inständige Gebet mit Seinem himmlischen Vater. Als Christus einmal auf dem Ölberg betete, baten ihn Seine Jünger: "Herr, lehre uns beten, wie schon Johannes seine Jünger das Beten gelehrt hat". Da sagte der Herr zu ihnen: "Wenn ihr betet, so sprecht:

 

Vater unser der Du bist in den Himmeln, geheiligt werde Dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. (Matth. 6: 9-13; Lk. 11: 1-4).

 

Seit der Herr Seine Jünger dies Gebet gelehrt hat, betet die Christenheit der ganzen Welt dieses Gebet zum himmlischen Vater im Namen Seines Sohnes – zu jeder Zeit, an jedem Ort, zu jedem Augenblick, in Zeiten des Wohlergehens und ganz besonders in Zeiten der Bedrängnis, in den Kirchen und den Häusern.

 

Wenn die Gläubigen das „Vater Unser“ in Demut aussprechen, dann beten sie den wahrhaftigen Gott in Geist und Wahrheit an, sie verherrlichen Seinen allheiligen Namen. Sie erlangen von IHM innere Ruhe und geistlichen Frieden. Außerdem erringen sie Erlösung von großen Versuchungen und Befreiung vom Satan und seinen Mächten. Nicht zuletzt werden sie mit dem täglichen Brot, also allen materiellen und geistlichen Dingen, vor allem der Teilnahme an der heiligen Eucharistie gesegnet. Denn in Bezug auf die Gabe der heiligen Kommunion legen die heiligen Väter die Bitte um das tägliche Brot vor allem aus. Und die Gläubigen erlangen die unerschütterliche Hoffnung auf das Ewige Leben.

 

Das Gebet des Herrn ist ein Wort des Geheimnisses, das die Tür des Himmels weit für uns öffnet und zur Erfüllung der Fürbitten führt, die dem Vater im Glauben dargebracht werden. So hat es uns auch unser Herr Jesus Christus versprochen: "Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet." (Matth. 7: 7; Lk. 11: 9; Joh. 16: 24).

 

Deshalb ist das "Vater Unser" das Eingangstor unseres Betens und steht am Beginn einer jeden Gebetsregel Die gesamte Christenheit liebte und liebt dieses Gebet; sie meißelte es gleichsam in ihr Herz ein, sie formte es zum Gedicht, sie vertonte es in vielen Melodien und übersetzte es in viele Sprachen, die nicht zu zählen sind. Das Gebet des Herrn ist ein anschauliches Bild, eine Ikone des Wortes, die der Herr für uns gemalt hat, um es uns beten zu lehren und um uns ein Muster, an dem wir unsere Bitten orientieren können. Ursprünglich hat der Herr das Gebet wohl in arämäischer Sprache, Seiner muttersprache und der Seiner Jünger und Apostel gesprochen.

 

Das Gebet des Herrn gliedert sich in:

  • die Einleitung
  • die sieben Bitten
  • den Abschluss

In der Einleitung richten wir das Gebet an den Himmlischen Vater, indem wir beten: "Unser Vater in den Himmeln." (Matthäus 6:9).Der Herr sagte zu Seinen Jüngern: "Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt, denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe."(Joh. 15: 15).

 

Nach Seiner Auferstehung sagte Christus zu Maria Magdalena: "... Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen. Geh aber zu meinen Brüdern, und sage ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott."(Joh. 20: 17; Matth. 28: 10).

 

Der hl. Apostel Paulus sagt dazu: "Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so dass ihr euch immer noch fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: 'Abba, lieber Vater.'" (Röm. 8: 15).

 

Der hl. Apostel und Evangelist Johannes sagt: "Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden; denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind." (Joh. 1: 12-13).

 

Der hl. Apostel Paulus sagt: "Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist Seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: 'Abba, lieber Vater.  Daher bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn. Bist du aber Sohn, dann auch Erbe - Erbe durch Gott" (Galater 4: 6-7; Römer 8: 17).

 

Wir sind durch Gott neu geboren worden an dem Tag, an dem wir auf den Namen der heiligsten Dreieinheit getauft worden sind. Der Heilige Geist kam durch die heilige Taufe und Myronsalbung auf uns herab, wie Er auf unseren Herrn Jesus Christus am Tag Seiner Taufe durch den heiligen Johannes den Täufer im Jordan herabkam. Auch über uns ist das Zeugnis des Himmels ausgerufen, dass wir Kinder Gottes sind. Denn wir gehören durch die heilige Taufe zu Christus über Den aus den Himmeln ausgerufen ist: "Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe." (Matth. 3: 17). Durch Ihn sind auch wir durch die Gnade Söhne und Töchter des Höchsten geworden. 

 

So erlangen auch wir die Wiedergeburt aus Wasser und Geist gemäß den Worten Jesu zu Nikodemus: "Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er nicht das Reich Gottes sehen ... Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist ...'" (Joh. 3: 3-7).

 

Die Eigenschaft der Sohnschaft, die wir von Gott durch unsere geistliche Geburt in der hl. Taufe erlangen, verpflichtet uns, unseren himmlischen Vater zu lieben, Seine Weisungen zu befolgen, Ihn anzubeten, uns auf Ihn zu verlassen und alle unsere Hoffnungen auf Ihn zu setzen. Dadurch werden wir wahrhaftig Seine Kinder sein und als Kinder Gottes haben wir das große Glück, in der Gemeinschaft mit allen anderen Kindern Gottes in Seinem Hause, der Heiligen Kirche, sein zu dürfen.

 

Das Gebet des Herrn ist ein Wort des Geheimnisses, das die Tür des Himmels weit für uns öffnet und zur Erfüllung der Fürbitten führt, die dem Vater im Glauben dargebracht werden. So hat es uns auch unser Herr Jesus Christus versprochen: "Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet." (Matthäus 7:7; Lukas 11:9; Johannes 16:24).

 

Deshalb ist das "Vater unser" das Eingangstor unseres Betens und steht am Beginn einer jeden Gebetsregel Die gesamte Christenheit liebte und liebt dieses Gebet; sie meißelte es gleichsam in ihr Herz ein, sie formte es zum Gedicht, sie vertonte es in vielen Melodien und übersetzte es in viele Sprachen, die nicht zu zählen sind. Das Gebet des Herrn ist ein anschauliches Bild, eine Ikone des Wortes, die der Herr für uns gemalt hat, um es uns beten zu lehren und um uns ein Muster, an dem wir unsere Bitten orientieren können. Ursprünglich hat der Herr das Gebet in aramäischer Sprache, Seiner Muttersprache mit Seinen Jüngern und Aposteln gesprochen.

 

Die Eigenschaft der Gotteskindschaft, die wir von Gott durch unsere geistliche Geburt in der hl. Taufe erlangen, soll uns mit unserem ganzen Herzen dahin führen, unseren Himmlischen Vater zu lieben, Seine Weisungen mit Liebe und Treue zu befolgen, Ihn anzubeten, uns auf ihn zu verlassen und alle unsere Hoffnungen auf Ihn zu setzen. Wenn wir so leben, so werden wir wahrhaftig Seine Kinder sein!

 

Auch haben wir als Kinder Gottes das große Glück, in der Gemeinschaft mit allen Kindern Gottes in Seinem Hause, der heiligen Kirche sein zu dürfen. Wenn wir uns aber einmal vom Hause Gottes entfernen, wie es der verlorene Sohn tat, so werden wir hungrig: „Er hätte gern seinen Hunger mit den Futterschoten gestillt, die die Schweine fraßen, aber niemand gab ihm davon.“ (Lk 15: 16).

 

In er Situation, wo wir uns von Gott und Seiner Liebe entfernt haben, gemahnt uns das „Vater Unser“ umzukehren, Buße zu tun und damit zum Herrn, unserem Gott, umzukehren. Der Vater erwartet uns bereits sehnsüchtig, damit er uns den Ring der Gotteskindschaft, erneut überreichen kann.

 

Dies ist eine feste Zusage, die niemals aufgehoben und für uns immer wieder im Sakrament der hl. Beichte erneuert wird. Oftmals denken wir, wir hätten diesen ganz besonderen Vorzug verloren und fühlen uns daher wie der verlorene Sohn und sagen: „Ich bin nicht wert, Dein Sohn zu heißen; mache mich zu einem Deiner Tagelöhner.“ (Lk. 15: 19). Dann wird uns der Himmlische Vater, ehe wir zu Ende sprechen können, in seiner Barmherzigkeit umarmen. Denn Er lässt es nicht zu, dass dieser harte Satz Wirklichkeit wird. Er wird uns den Ring der Besiegelung des Neuen Bundes wieder zurückgeben und unsere Gotteskindschaft erneut bestätigen und ebenso Seine liebende und rettende Vaterschaft uns gegenüber, indem Er auch zu jedem einzelnen von uns sagt: „... wir wollen essen und fröhlich sein. Denn mein Sohn (oder meine Tochter) war tot und lebt nun wieder; Er (oder sie) war verloren und ist nun wiedergefunden worden." (Lukas 15:22-24).

 

Priester Thomas Zmija

 

Der Schutz des ungeborenen Lebens aus orthodoxer Sicht

 

Das Ethos der orthodoxen Kirche ist nichts anderes als der lebendige Ausdruck der Heiligen Schrift und der Lehre der hl. Väter. Dieser orthodoxen ethischen Geisteshaltung hat die Russische Orthodoxe Kirche in einem richtungsweisenden Dokument erneut klaren Ausdruck verliehen. Mit der Schrift „Über die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens vom Zeitpunkt der Empfängnis an“ wurde aber nicht nur eine wichtige Zusammenfassung dieses Teil der orthodoxen Ethik vorgenommen, sondern auch den orthodoxen Gläubigen angesichts der gegenläufigen Auffassungen unserer säkularen Gesellschaft damit eine richtungsweisende Orientierungshilfe an die Hand gegeben. Deshalb möchte ich in diesem Beitrag die orthodoxe Sicht über den Schutz des ungeborenen Lebens und weiterer, in diesem Dokument angesprochener, Bereiche der medizinischen Ethik kurz vorstellen.

 

Wir orthodoxen Christen glauben nicht an eine Moral, ein Regelwerk, ein Gesetz oder ein Buch; wir glauben vielmehr an den menschgewordenen Sohn Gottes, der uns durch Sein Wort und Beispiel zu dem Lebenswandel hinführt, der ein lauteres Leben verleiht. Wir folgen Christus, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist (vgl.: Joh. 14: 6). Wir folgen Christus auf dem Weg, der uns ins ewige Leben führt.

 

Insofern ist der Herr Jesus Christus in Seiner Person die vollkommene Verkörperung des schöpfungsgemäßen Menschseins, also die Verkörperung des wahren christlichen Ethos. Wenn wir Christi Beispiel und den lebensspendenden Worten Seines hl. Evangeliums folgen (vgl.: Joh. 14: 23), dann werden auch wir in unserer Person und unserem Leben den Ethos Christi verwirklichen.

 

Die Person des Erlösers stellt uns nicht nur das höchste sittliche Vorbild vor Augen, Er ist als Person die Person gewordene Vollkommenheit dieses sitllichen christlichen Ideals. Der Herr Jesus Christus sagt über sich: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ (Joh. 14: 9) und weiter: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Matth. 5: 48). In Bezug auf den Schutz der Kinder (und damit auch des ungeborenen Lebens) spricht der Herr in sehr klaren Worten zu uns: „Wer einem Kind Böses antut, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein um seinen Hals gehängt und er ersäuft würde“ (Matth. 18: 6).

 

Das hl. Evangelium ist die Schranke, die uns Christen von den Auffassungen dieser Welt trennt. Wir leben in der Welt und legen Zeugnis dort ab, aber wir können nicht von dieser Welt sein, wollen wir den Herrn nicht verraten. Die gilt nicht nur heute, sondern dies galt zu allen Zeiten. Bereits die Zwölf-Apostel-Lehre mahnt eindringlich angesichts des in der Antike geltenden Zeitgeistes und der Handlungsweise der damaligen Menschen: „Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht Knaben schänden, du sollst nicht huren, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht Zauberei treiben, du sollst nicht Gift mischen, du sollst nicht ein Kind durch Abtreibung morden, und du sollst das Neugeborene nicht töten“ (Didache, Abschnitt 2.1).

 

Wir Christen sind in dieser Welt, aber wir dürfen nicht von dieser Welt sein (vgl.: Röm. 12: 2). Bei unserer Bezeugung des orthodoxen Ethos geht es aber gerade nicht um die Formulierung einer abstrakten sittlichen Moral, nicht um eine Gesetzesmoral, sondern um das Leben in Christus selbst, also darum, im Menschen die Begeisterung für die vollkommenen Hingabe an Gott wachzurufen. Wir sind nicht von der Welt gleichwie auch der Herr Jesus Christus nicht von der Welt ist (Joh. 17: 16) und zugleich sollen wir bezeugen, dass Gott die Welt so sehr geliebt hat, dass Er Seinen Eingeborenen Sohn gesandt hat, damit alle durch Christus zum ewigen Leben gelangen (vgl.: Joh. 3:16).

 

Einer der zentralen Gedanken in den Schriften des hl. Apostel Paulus ist die Rede vom Leib Christi. Wenn der hl. Apostel Paulus über unsere Erlösung redet spricht er immer wieder vom „In- Christus- Sein“ (vgl. z.B. Gal 3: 27 f.) Der Apostel beschreibt damit die tiefe persönliche Verbindung zwischen dem Getauften und dem auferstandenen Christus. Wer in Christus ist, steht unter dessen lebenspendendem, alle Lebensbereiche vergöttlichenden Einfluss. Dadurch gewinnt der Getaufte Anteil am „neuen Adam“, der der Menschensohn ist (vgl.: auch (2 Kor 5, 17). Der Gläubige gewinnt in seinem Sein bereits hier auf Erden am Leben des auferstandenen Christus. Er ist mit Dessen menschlicher Natur in der hl. Taufe überkleidet und mit dem Siegel des Heiligen Geistes in der hl. Myronsalbung versiegelt worden. Wie könnte also der Christ, wo er bereits Anteil am auferstandenen Leben in Christus durch den Heiligen Geist erhalten hat, den Herrn des Lebens Jesus Christus und den Heiligen Geist, den Spender des Lebens,  verleugnen, indem er an der Tötung der Ungeborenen teilnimmt? Denn die hohe Wertschätzung des ungeborenen Lebens ist für die Christen integraler Bestandteil der Ehre und Anbetung Gottes, des Ursprungs allen Lebens. Der antike christliche Autor fasst das Ethos der Christen in den Worten zusammen:Wir hingegen dürfen, nachdem uns ein für allemal das Töten eines Menschen verboten ist, selbst den Embryo im Mutterleib […] nicht zerstören. Ein vorweggenommener Mord ist es, wenn man eine Geburt verhindert; es fällt nicht ins Gewicht, ob man einem Menschen nach der Geburt das Leben raubt oder es bereits im werdenden Zustand vernichtet. Ein Mensch ist auch schon, was erst ein Mensch werden soll — auch jede Frucht ist schon in ihrem Samen enthalten“ (Apologeticum, Kapitel 9).

 

Die frühe Kirche war also in ihrer Haltung zum Schutz des Lebens äußerst klar. Doch worauf basiert diese Haltung? Im Zentrum unserer Erlösung steht die Menschwerdung des Sohnes Gottes. Wenn wir auf die Weihnachtsikone blicken, so sehen wir, dass das Christuskind genau in der Mitte der Ikone liegt, in Windeln gewickelt, in der Krippe. Die Geburt des Christuskindes wird von den hl. Engeln den Hirten in Bethlehem mit den Worten verkündet: „Ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren. Es ist Christus, der Herr“ (Lk. 2: 10-11).

 

Im Geheimnis der Geburt unseres Heilandes und Erlösers begegnen wir auch dem tiefen, von Gott geschaffenen Mysteriums unseres Menschseins, das sich in der Geburt eines jeden Kindes hier auf Erden widerspiegelt. Mit der Geburt Jesu Christi wurde auch der volle Sinn und die Heiligkeit einer jeder menschlichen Existenz und ihres Werdens geoffenbart. Jeder Mensch ist von seiner Empfängnis an zu einer Lebensfülle berufen, die die Dimension seiner rein irdischen Existenz weit übersteigt, denn jeder Mensch ohne Ausnahme ist nach dem Ebenbild Gottes erschaffen worden und damit dazu berufen, zum Abbild Gottes zu werden, also durch Gottes Gnade und Liebe zur vollendeten Lebensgemeinschaft mit Gott zu gelangen, die die hl. Väter die Vergöttlichung nennen.

 

Ein genauerer Blick in die Schriften des Alten Testamentes zeigt ebenfalls, dass ein von Gott im Mutterleib geformter Mensch mit göttlich verliehener Würde und Bestimmung ausgestattet ist. Einige Beispiele dazu:

 

Der hl. Prophet Simson wurde vom Engel Gottes als „Geweihter Gottes vom Mutterleib an“ bezeichnet (vgl.: Ri 13: 7). Ein Embryo kann also schon als ungeborenes Wesen von Gott berufen sein. In Gottes Augen ist er vom Beginn seiner Erschaffung im Mutterleib an ein vollkommen vollwertiger Mensch.

 

Ähnliches sehen wir beim hl. Propheten Jesaja. Er bezeugt, dass der Herr ihn „vom Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat“ (vgl.: Jes. 49: 5).

 

Der Engel des Herrn prophezeit dem hl. Zacharias, dass sein Sohn der hl. Johannes der Vorläufer würde „schon vom Mutterleib an erfüllt sein mit dem Heiligen Geist“ (vgl.: Lk 1: 15).

 

Die aktuelle Auseinandersetzung um das Lebensrecht des ungeborenen Kindes, wir heute meist von einem postulierten „Recht auf Abtreibung“ dominiert. In den Diskussionen wird ebenfalls viel mit den Rechten der Frau argumentiert. Dabei wird implizit vorausgesetzt, dass der Embryo im Bauch der Mutter noch keine Person mit Menschenwürde sei. Die Abtreibungsbefürworter argumentieren hier meist mit der nicht medizinisch nicht beweisbaren Annahme: „Das ist ja noch gar kein Mensch“.

 

Angesichts einer zynischen Denkungsart, dass ich ein gutes Leben nur dann lebe, wenn ich meine selbst gesteckten Ziele durchsetze, „meine Träume verwirkliche“ und „mein Leben selbst in die Hand nehme“; angesichts einer Denkungsart, dass niemand mir sagen darf, was richtig oder falsch wäre; angesichts einer Denkungsart, deren moralischer Kompass das menschliche Leben und mit ihm auch  die ganze Schöpfung innerweltlichen Nützlichkeits- und Verfügbarkeitserwägungen unterwerfen will, in der alles nach seinem „Nutzen“ und seinem „Konsumwert“ gewichtet werden soll, hat die Russische Orthodoxe Kirche ein neues richtungsweisendes Dokument „Über die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens vom Zeitpunkt der Empfängnis an“ veröffentlicht. Der Text wurde auf der Sitzung des Heiligen Synod am 27. Dezember 2023 angenommen (Protokoll Nr. 138).

 

Dieses Dokument ist eingereiht in eine ganze Reihe anderer vergleichbarer moraltheologischer Texte, die die Russische Kirche in den letzten Jahrzehnten für ihre Gläubigen zusammengestellt hat. Sie verkünden alle miteinander das Ethos der orthodoxen Kirche zu wichtigen Fragen unserer Zeit.

 

Am Anfang steht der Text über die „Grundlagen des Sozialkonzepts der Russischen Orthodoxen Kirche“ im Jahr 2000. In diesem Dokument werden die Beziehungen zwischen Kirche und Staat besprochen, sowie das Verhältnis der orthodoxen Kirche zur säkularen Gesellschaft dargelegt. In diesem Zusammenhang werden auch einige bedeutsame aktuelle Fragestellungen aus kirchlicher Perspektive diskutiert. Zwar betrachtet der Text die Gegebenheiten der russischen Gesellschaft, jedoch gibt es auch viele vergleichbare Erscheinungen in unserem westeuropäischen Lebenskontext, die diesen Text auch für die orthodoxen Christen im Westeuropa bedenkenswert erscheinen lassen.

 

Diesem meist kurz als „Sozialkonzept der Russischen orthodoxen Kirche“ bezeichneten Dokument folgte dann im Jahre 2008 die „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Rechte des Menschen“. Es diskutiert ausführlich im Lichte der orthodoxen Soteriologie und Anthropologie, wie sich die orthodoxe Kirche zum säkular begründeten Institut der Menschenrechte verhalten kann. Insbesondere werden die Begrenzungen innerweltlicher, staatlicher und gesellschaftlicher Normsetzungen angesichts von Offenbarung und kirchlicher Lehre benannt. Wörtlich heißt es dazu in diesem Dokument: „…Christen finden sich in Verhältnissen wieder, in denen gesellschaftliche und staatliche Strukturen sie zwingen können und oft schon zwingen, entgegen den Geboten Gottes zu denken und zu handeln, was die Erreichung des wichtigsten Ziels im menschlichen Leben - die Befreiung von der Sünde und die Erlangung des Heils - behindert…". In dieser Situation ist die Kirche dann aufgerufen, „auf der Grundlage der Heiligen Schrift und der Heiligen Überlieferung die grundlegenden Bestimmungen der christlichen Lehre über den Menschen in Erinnerung zu rufen und die Theorie der Menschenrechte und ihre Umsetzung im Leben zu bewerten“.

 

Das neue Dokument zum Thema des Lebensschutzes und der Bioethik ist in einem mehrjährigen Prozess ausgearbeitet worden. Es entstand in der „Interkonziliaren Präsenz“, einem beratenden Gremium, das den Patriarchen und den Heiligen Synod bei der Vorbereitung von Entscheidungen über wichtige Fragen unterstützt. Dieses Gremium ist eine der verschiedenen Ausdrucksformen des synodalen Lebens in der Russischen Orthodoxen Kirche, dessen Wiederbelebung eines der zentralen Anliegen der Landeskonzils von 1918 gewesen war.

 

Erstmals tagte dieses beratende Gremium aus Bischöfen, Klerikern, Mönchen und Laien im Jahr 2010. Dieses Gremium erarbeitete das hier vorgestellte Dokument zum Lebensschutz, das zunächst zur eingehenden Diskussion veröffentlicht worden war und jetzt durch den Heiligen Synod der Russischen Orthodoxen Kirche abschließend beschlossen worden ist.

 

Alle diese sozialethischen Dokumente besprechen aktuelle moraltheologische Fragen zwar vor dem konkreten Hintergrund der gesellschaftlichen Gegebenheiten in Russland an, jedoch behandeln sie dabei wichtige Fragen, die den Kern des für alle orthodoxen Christen gemeinsamen Ethos besprechen. Aus diesem Grunde sind sie ein wertvoller Orientierungsbeitrag für alle orthodoxen Christen, egal in welchem gesellschaftlichen Kontext sie auch leben mögen.

 

So hat z.B. der Deutsche Bundestag im Jahr 2002 mit der Verabschiedung des Embryonen-Schutz-Gesetzes ein weiterer Schritt in Richtung eines grundlegenden Wandels des Menschenbildes in Bioethik und medizinischer Forschung getätigt. Aber die Ethik lässt sich nun einmal nicht „in Scheiben schneiden“ und die Bereiche voneinander abtrennen. Die Konsequenzen im Blick auf andere Grenzfragen des menschlichen Lebens sind absehbar. Deshalb ist die ethische Auseinandersetzung und öffentliche Stellungnahme in Fragen des Lebensschutzes eine notwendige Aufgabe der Kirchen. Außerdem sind nicht nur Christen zur ethischen Orientierung in Labyrinth der Deutungen und Ideologien auf- und herausgefordert.

 

Aus dem biblischen Menschenbild, dessen Kernpunkt für uns orthodoxe Christen die durch Tod und Auferstehung Jesu Christi erneuerte Gottesebenbildlichkeit steht, wissen wir: Die Menschenwürde kommt dem Menschen aufgrund seines Menschseins zu und ist allen rechtlichen und politischen Regelungen vorgängig. Das bedeutet, kein Mensch, keine Gesellschaft und auch kein Staat hat das Recht, einem Menschen seine Würde abzusprechen und sei es auch mit noch so subtilen philosophischen, politischen oder ideologischen Formulierungen. Das Leben eines jeden Menschen liegt in Gottes Hand ist daher der Verfügbarkeit durch andere entzogen. Das gilt für das ungeborene Leben ebenso wie für das sterbende, für das gesunde ebenso wie für das behinderte oder kranke Leben. Aus diesem Grunde verbieten sich alle biologischen oder medizinischen Maßnahmen, die menschliches Leben an seinem Beginn oder seinem Ende in irgendeiner Form disponibel werden lassen wollen.

 

Wir als Christen können nicht wegschauen und schweigen, weil wir Nachfolge Jesu Christi, des menschgewordenen Sohnes Gottes stehen. Daher sind Christen auch aufgefordert, an ihrem Platz und in ihrer jeweiligen Lebenssituation Verantwortung zu übernehmen für die Entwicklung und Gestaltung unserer Welt und Gesellschaft. Die moderne Medizintechnik und Diagnostik eröffnen eben auch Möglichkeiten, die vor Gottes Augen böse und sündhaft sind. Präimplantationsdiagnostik, Keimbahntherapie, therapeutisches und reproduktives Klonen, Abtreibung, Euthanasie sind einige der Bereiche, die die Würde und Unversehrtheit des Menschen antasten. Sie machen zuerst die menschliche Person und dann am Ende das Menschsein an sich verfüg- und am Ende auch verwertbar. Die gegenwärtigen Diskussionen und Auseinandersetzungen um Abtreibung, Euthanasie und die Anwendungsmöglichkeiten der medizinischen Forschung

 machen uns in eklatanter Weise deutlich, dass das ganze menschliche Leben in allen Phasen seiner zeitlichen Entwicklung dem egoistischen Zugriff anderer Menschen fundamental ausgesetzt ist. Die Frage nach dem Selbstwert und der Würde des menschlichen Lebens ist deshalb für alle Christen unausweichlich. Hier eine kirchliche Antwort zu finden und zu befolgen ist leitende Abicht dieses orthodoxen Dokumentes.

 

Das Dokument „Über die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens“ beginnt mit dem einleitenden Abschnitt: „Die Heilige Schrift über den Beginn des menschlichen Lebens“. Mit Verweisen auf wichtige Stellen in der Heiligen Schrift wie Psalm 138:13.15 ff; Hiob 10:8-12.18; Jeremias 1:4-5 und Lukas 1: 13-15.41-44) wird die orthodoxe Position, dass das menschliche Leben im Mutterleib beginnt erläutert. Die Menschwerdung ist die orthodoxe Kirche identisch mit dem Zeitpunkt der Befruchtung, also der Verschmelzung von Samen- und Eizelle. Dem dadurch entstandenen menschlichen Embryo ist von diesem Anfang an die durch seinen Schöpfer verliehene menschliche Würde zu eigen. Die orthodoxe Kirche erteilt deshalb jeder Abstufung der fundamentalen Rechte des Menschseins eine eindeutige Absage.

 

Dieses wird dann im zweiten Absatz „Das Recht des ungeborenen Kindes auf Leben“ entsprechend theologisch entfaltet: „Die Kirche bezeugt, dass das Leben des Menschen vom Augenblick der Empfängnis an beginnt und dass folglich daher der Mensch schon im Mutterleib ein Recht auf Leben hat“, denn „ein einzigartiges Genom unterscheidet den Embryo von jeder Zelle im Organismus des Vaters oder der Mutter. Während des gesamten Verlaufs der intrauterinen Entwicklung kann der neue menschliche Organismus nicht als Teil des Körpers der Mutter betrachtet werden.“ Hierin liegt nach der Auffassung der orthodoxen Kirche auch die seit apostolischer Zeit belegte Ablehnung der Abtreibungspraxis durch den christlichen Glauben begründet: „Solchermaßen ist der absichtliche Vollzug einer Abtreibung in einem beliebigen Stadium der Schwangerschaft eine vorsätzliche Beraubung des Lebens eines ungeborenen Kindes“.

 

Hier werden die bereits in den ersten beiden Sozialworten benannte Positionen näher ausgeführt, die sich aber in bestimmten Nuancen von den ansonsten gleichgelagerten römisch-katholischen Positionen unterscheidet. So erlaubt die orthodoxe Kirche den Ehepaaren die künstlichen Mittel zur Geburtenregelung anzuwenden. Auch die künstliche Befruchtung ist möglich, jedoch dürfen dabei keine schon befruchteten Eizellen vernichtet werden.

 

Ganz klar und eindeutig ist die Orthodoxie in ihrer Ablehnung jeder Form und Begründung von Abtreibung. Jedes noch so missgestaltete, kranke oder geistig gehandicapte Kind ist Gottes Abbild und zum Leben auf Gott hin, zur Theosis berufen.

 

Das Leben des Menschen sei somit sowohl vor als auch nach der Geburt unantastbar. Die orthodoxe Kirche bekräftigt hier noch einmal das von Gott geschenkte Recht auf Leben vom Augenblick der Empfängnis an. Die Kirche ruft deshalb den Staat zum Schutz des ungeborenen Lebens sowie der Gesundheit der ungeborenen Kinder durch eine entsprechende Gesetzgebung auf.

 

Der dritte Abschnitt legt im Detail die ablehnende Haltung der orthodoxen Kirche zum Schwangerschaftsabbruch dar. Hierbei wird die Heilige Tradition und die Lehre der hl. Väter ausführlich zur Sprache gebracht. Seit apostolischer Zeit lehnt die orthodoxe Kirche den Schwangerschaftsabbruch ab. Die Russische Orthodoxe Kirche führt den Gläubigen in diesem Dokument mit wörtlichen Zitaten aus den apostolischen und frühchristlichen Schriften die bleibende Gültigkeit der christlichen Lehre auch angesichts anderslautender Forderungen gesellschaftlicher und politischer Gruppen in unserer Zeit vor Augen. So wird die Zwölf-Apostel-Lehre (Didache), der Brief des Barnabas oder auch der hl. Tertullian zitiert. Der hl. Tertullian schreibt zum Beispiel: „Da uns ein für alle Mal der Menschenmord verboten ist, dürfen wir uns nicht einmal erlauben, auch einen Embryo zu zerstören“. Ebenso deutlich sind der hl. Johannes Chrysostomus, der sagt: „Die Abtreibung ist etwas Schlimmeres noch als Mord. Ich habe gar keinen Ausdruck dafür; denn ein solches Weib nimmt nicht einem geborenen Wesen das Leben, sondern es verhindert, dass es überhaupt geboren wird“. Der hl. Basilus der Große sagt: „Eine Frau, die absichtlich die Leibesfrucht abtreibt, macht sich eines Mordes schuldig“ und genauso der hl. Ambrosius von Mailand: „Durch die Abtreibung nimmt man ihnen das Leben, bevor man es ihnen gibt.“ Im 91 Kanon des Konzils in Trullo wird die christliche Auffassung dahingehend zusammengefasst: „Frauen, die Medikamente verabreichen, die ungeborene Föten im Mutterleib schädigen, und die, die Gifte einnehmen, um den Fötus zu töten, werden mit der Strafe für Menschenmord belegt."

 

Warum hielten es Christen schon seit den ersten Tagen der Kirche für unumgänglich, für das Leben einzutreten? Die Antwort liegt im christlichen Verständnis des Menschseins. So lehnen die orthodoxen Christen die heidnische Vorstellung ab, wonach der Mensch erst bei der Geburt beseelt werde (so der heidnische Philosoph Platon). Vergleichbare Vorstellungen werden heute auch den meinungsbildenden Eliten und den Entscheidern in Wissenschaft und Politik vertreten. Die Vertreter einer säkularen Medizinethik vertreten die Ansicht, dass das Menschsein und damit die Menschenwürde erst aus der vollkommenen menschlichen Entscheidungsfähigkeit erwachsen würde. Insofern komme dem Embryo, genauso wie auch den gehandicapten Menschen, nur ein eingeschränktes Menschsein und davon abgeleitet, nur ein verminderter Lebensschutz zu. Oft wird dann auch die These vertreten, dass Eigenbewusstsein und Selbstbestimmungsfähigkeit erst den Menschen ausmachen würden. Als richtungsweisender Vertreter solcher fehlgeleiteten Überlegungen wäre hier der australische Philosoph Peter Singer zu nennen. Er behaupte in den 1970-er Jahren, dass die Menschenwürde von Embryonen, Geisteskranken oder Komatösen wegen der fehlenden vollkommenden Entscheidungsfähigkeit gar nicht gegeben sei. Die Antwort der orthodoxen Kirche auf derartige Ressentiments gegründet sich auf die orthodoxe Anthropologie. Diese wiederum haben uns die hl. Väter aufgrund der göttlichen Offenbarung ausgelegt.

 

Viele der heutigen herrschenden säkularen Theorien gehen davon aus, dass es sich bei der Menschwerdung um einen gestuften Prozess handeln würde, der dann wiederum eine Abstufung des Lebensschutzes erlauben würde. Diese Argumentationsmuster treten in modifizierter Form immer wieder auf dringen immer weiter in das Bewusstsein weiter Bevölkerungskreise ein. Dies steht im diametralen Gegensatz zum orthodoxen Ethos, auch zu den Erklärungen der anderen Konfessionen sowie zu den grundlegenden Überzeugungen der Menschenwürde, wie sie sich noch heute in vielen Verfassungstexten ausdrückt. Mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginn die Existenz eines neuen Menschen. Darum haben Embryonen auch schon auf den frühesten Stufen ihrer Entwicklung am Schutz des menschlichen Lebens Teil. Im embryonalen Entwicklungsprozess können wir zwar Zäsuren und Abschnitte erkennen, aber sie bilden einem einheitlichen, dynamischen und sehr konsistenten Prozess. In der Entstehung jedes neuen menschlichen Lebens setzt sich nach orthodoxer Überzeugung der Schöpfungsakt Gottes fort. Einzelne Abschnitte lassen sich zwar dabei von der medizinischen Forschung benennen, sie gehören aber alle gemeinsam zum Vorgang des menschlichen Werdens im Mutterleib und begründen keinen qualitativ differenzierbaren ethischen Status des menschlichen Lebens.

 

Für uns orthodoxe Christen ist hier der Gedanke aus Psalm 139 richtungsweisend: „Du hast mich mit meinem Innersten geschaffen, im Leib meiner Mutter hast du mich gebildet. Herr, ich danke dir dafür, dass du mich so wunderbar und einzigartig gemacht hast! Großartig ist alles, was du geschaffen hast – das erkenne ich! Schon als ich im Verborgenen Gestalt annahm, unsichtbar noch, kunstvoll gebildet im Leib meiner Mutter, da war ich dir dennoch nicht verborgen. Als ich gerade erst entstand, hast du mich schon gesehen. Alle Tage meines Lebens hast du in dein Buch geschrieben – noch bevor einer von ihnen begann! Wie überwältigend sind deine Gedanken für mich, o Gott, es sind so unfassbar viele!“

 

Wir orthodoxen Christen halten also unbeirrbar daran fest, dass die unveräußerliche menschliche Würde als Konsequenz des menschlichen Wesens als Ebenbild-Gottes-Sein bereits in der Empfängnis verliehen wird (vgl. 1.: Mose 1: 26–27; Psalm 139: 13–16).

 

Inmitten eines Zeitgeistes, der unerwünschte Kinder weggemachen und für die Forschung nicht mehr nutzbare Embryonen wegwerfen will, tritt die orthodoxe Kirche energisch für den Schutz des ungeborenen Lebens ein. Zusammen mit Christen aller Konfessionen erklären sie in deutlichen Worten, wie verabscheuungswürdig die Abtreibung ist.

 

Gleichwohl gibt es heutzutage viele Versuche, mit Hilfe einer bestimmten Sprachregelung und einer Semantik doch Zäsuren und Unterschiede in der Entwicklung des Embryos auszudrücken zu können, die einen qualitativ verschiedenen, abgestuften Lebensschutz rechtfertigen würden. Auch in den in der Trägerschaft der beiden westlichen Konfessionen stehenden Schwangerschaftsberatungsstellen möchte man gerne im Sinne qualitativer Unterschiede von der Zugehörigkeit zur Gattung Mensch, in einer Unterscheidung von menschlichem Leben und dem Menschen sowie von latentem menschlichen Leben und Menschen sprechen. Dies ist mit dem orthodoxen Ethos jedoch unvereinbar. Eine andere, mit dem orthodoxen Ethos nicht zu vereinbarende Haltung ist es, das individuelle Leben des ungeborenen Menschen von der Zustimmung und Annahme der werdenden Mutter abhängig machen zu wollen. So notwendig und prägend das vorgeburtliche Leben des Menschen auch mit der Mutter in Verbindung steht: Es ist nicht bloßer Bestandteil der Mutter oder gar ihrem Willen unterworfen. Der Embryo besitzt die menschliche Würde als Ebenbild Gottes allein aus sich selbst heraus. Er besitzt von Anbeginn an vollen Anteil an der gottgegebenen menschlichen Natur. Die Menschenwürde als Folge der Teilhabe an der gottgeschaffenen menschlichen Natur ist also weder an Alter noch an die Vernunftbegabtheit gebunden. Darum besitzen auch geistig gehandicapte Menschen die vollkommene menschliche Würde. Dies ist bis in die jüngste Zeit selbst im säkularen Umfeld unbestritten gewesen. In der Gesetzgebung finden wir zum Beispiel auch eine Vor- und Nachwirkung des Schutzes der Menschenwürde. So gibt es z.B. einen Persönlichkeitsschutz, der bis nach dem Tod des Menschen wirkt.

 

Die Bedrohungen der menschlichen Würde durch staatliche und gesellschaftliche Mächte ist ein immer wiederkehrendes und damit latent immer vorhandenes Merkmal einer unter die Sünde und das Böse gefallenen Welt. Insofern sind die säkularen Menschenrechte der Versuch, eine Umsetzung sittlicher Normen in der politischen Gestaltung zu vollziehen.

 

Die orthodoxe Kirche achtet und befürwortet deshalb das Institut der Menschenrechte als der positiv zu wertende Versuch eine Schnittstelle von Recht und Sittlichkeit zu schaffen. Hierin liegt im orthodoxen Verständnis überhaupt die Daseinsberechtigung staatlicher Gewalt. Sowohl der christliche Glaube, als auch das Institut der Menschenrechte, treffen sich in den Fragen: Was ist der Mensch? Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Wir orthodoxe Christen finden die Antwort hierauf in der christlich-orthodoxen Anthropologie. In der Begegnung der orthodoxen Anthropologie mit den Menschenrechten ist der Begriff der „Person“ wichtig. Was die menschliche Person ausmacht, ist bereits grundgelegt in der Erschaffung des Menschen nach Bild und Gleichnis Gottes (vgl.: Gen.1:  26). Gemäß der biblischen Offenbarung und der auf ihr fußenden Lehre der hl. Väter wurde der Mensch aber von Gott nicht bloß geschaffen, sondern zugleich mit ganz bestimmten Eigenschaften (Abbild Gottes) und Aufgaben (Gottähnlichkeit, Gottebenbildlichkeit). Deshalb verkündet die orthodoxe Kirche, dass die menschliche Natur und damit zugleich auch jede menschliche Person eine unveräußerliche, das heißt nicht aufhebbare oder reduzierbare Würde besitzt.

 

Der hl. Gregor von Nazianz stellt diese menschliche Würde ins Verhältnis zum Akt der göttlichen Schöpfung wenn schreibt: „Gott hat alle Menschen so großzügig beschenkt, und Er tat es natürlich, um durch die gleiche Verteilung Seiner Gaben sowohl die gleiche Würde unserer Natur wie auch den Reichtum Seiner Güte zu offenbaren.”

 

Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus bezeugt, dass auch im Sündenfall die Würde der menschlichen Natur nicht verloren gegangen ist. Indem der Göttliche Logos eine vollkommene menschliche Natur angenommen hat und mit Seiner wahren Gottheit in einer Person unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt vereinigt hat, hat Er das unauslöschliche Abbild Gottes in der Natur des Menschen erneut zur Ebenbildlichkeit Gottes erhoben. Hierin liegt die orthodoxe Auffassung von der Unverletzlichkeit der menschlichen Person begründet. Diese menschliche Person ist zu nichts weniger als zur Heiligkeit berufen, die die hl. Väter als Theosis, als die Vergöttlichung des Menschen bezeichnen. Für die Orthodoxie ist der Mensch nichts weniger als das „ζῷον θεούμενον“, also ein Wesen, das gemäß der Aussage des hl. Athanasius sogar dazu bestimmt ist, Gott zu werden. Hierin bestätigt sich wiederum der höchste Wert der menschlichen Person. Der rumänische Theologe Erzpriester Dumitru Stăniloae fasst in seiner Orthodoxen Dogmatik die Lehre der hl. Väter über den Menschen, die orthodoxe Anthropologie, in die Worte, dass Heiligkeit und Vergöttlichung die wahre Vermenschlichung bedeuten. Hieraus ergibt sich die auch die orthodoxe Ablehnung jeder Reduzierung des Menschen von der gottesebenbildlichen Person zum bloßen Mittel.

 

In den Werten dieser christuszentrierten Anthropologie liegt der genuine orthodoxe Beitrag für die positiven Ausgestaltung und Fortentwicklung unseres Gemeinwesens. Deshalb ist es für orthodoxe Christen auch besonders ermutigend, wie viele Christen sich für ungeborenes und gefährdetes Leben einsetzen, sei es durch Hilfsangebote für schwangere Frauen in Not, als Pflegeeltern für Kinder in prekären sozialen Verhältnissen und durch Adoption.

 

Das neue Dokument der Russischen Orthodoxen Kirche fordert vor diesem Hintergrund auch den Schutz der Mutterschaft, denn „zu den Lebensumständen, die Frauen dazu veranlassen, sich für den Vollzug eines Schwangerschaftsabbruchs zu entscheiden, gehören extreme materielle Not und Hilflosigkeit sowie eine frühe Schwangerschaft und eine Schwangerschaft ohne Ehepartner". Die Kirche ruft zur  Verhütung von Schwangerschaftsabbrüchen zur Entwicklung wirksamer Maßnahmen zum Schutz der Mutterschaft und der Kindheit ebenso auf, wie zur Schaffung guter Bedingungen für eine mögliche Adoption oder zur Unterbringung von denjenigen Kindern in Pflegefamilien, deren Mütter aus verschiedensten Grund nicht in der Lage sind, sich so gut wie es notwendig ist, um sie zu kümmern.

 

In diesem Zusammenhang unterstützt die Russische Orthodoxe Kirche die Einrichtung von Krisenzentren für Frauen in schwierigen Lebenssituationen. Aber auch das gesellschaftliche Klima, das zu der hohen Rate an Abtreibungen führt, wird in dem Dokument kritisch angesprochen:  Die Kirche erkennt in der zunehmenden Zerstörung der Familien, in einer Orientierung an egoistischen Wertvorstellungen  sowie in der regelrechten Propagierung und Verfügbarkeit von Abtreibungen wichtige, unbedingt verbesserungswürdige Gründe für die hohe Abtreibungsrate in Russland. Klar erklärt die Kirche eine Pro-Abtreibungspropaganda und die Beteiligung orthodoxer Christen an dieser Propaganda sowie an der Durchführung der Abtreibungen für eine schwere Sünde.

 

Die Haltung der orthodoxen Kirche richtet sich aber nicht einfach gegen die Abtreibung, sie ruft die Menschen zu den Wegen Gottes, die ein lauteres Leben verleihen. Wir orthodoxen Christen sind nicht nur „gegen Abtreibung“, sondern vor allem sind wir „für das Leben“. Es gilt dem Sünder zu helfe, dass er umkehre und lebe. Die Debatten und der Einsatz der Christen für das Leben werden weitergehen, nicht nur beim Thema der Abtreibungen, sondern in der Zukunft auch vermehrt beim Thema der Euthanasie.

 

Deshalb fordert das neue Dokument der Kirche auch intensive seelsorgerliche Bemühungen für die betroffenen Frauen, die abgetrieben haben. Das Dokument formuliert, dass es „Heilung von dieser seelischen Wunde braucht, die sie (die Frau) sich selbst zugefügt hat, indem sie diese schwere Sünde beging“. Es gibt hier in der Seelsorge besonders sensibel und mitfühlend zu sein. Es gibt zahlreiche Berichte über Frauen, die ihre Abtreibung am liebsten ungeschehen machen würden. Viele Frauen leiden an den Folgen im Verborgenen und sprechen nicht darüber. Die orthodoxe Seelsorge lädt die betroffenen Frauen zu Gebet, Buße und Beichte sowie danach zur Teilnahme an den heilbringenden Mysterien ein.

 

Zugleich stellt das Dokument das Handeln der betroffenen Frauen in einen Schuldzusammenhang mit den Menschen in deren Lebensumfeld. Eindringlich betont die orthodoxe Kirche die Mitverantwortung der Angehörigen und anderer nahestehenden Personen für den vorgenommenen Schwangerschaftsabbruch. Das Dokument betont eindringlich, dass jede Frau gerade in der Zeit der Schwangerschaft die Unterstützung ihrer Nächsten, insbesondere aber ihres Ehepartners, brauche. Die orthodoxe Kirche benennt hier klar eine mögliche sündhafte Mitverantwortung.

 

Ausführlich behandelt das Dokument auch die Verantwortung der Ärzte und des medizinischen Personals, das an einer vorgenommenen Abtreibung beteiligt ist. Die orthodoxe Kirche stellt unmissverständlich klar, dass solche Ärzte und medizinisches Personal in schwer sündhaftem Widerspruch zu ihrer ursprünglichen Berufung, menschliches Leid zu verhindern und zu lindern handelt. Das Dokument kündigt ihnen, genau wie dem Ehemann, der seine Frau zu einer Abtreibung gezwungen hat, strengste kanonische Strafen an.

 

Die orthodoxe Kirche fordert alle staatlichen Institutionen auf, das Recht der Ärzte und des medizinischen Personals auf die Verweigerung der Teilnahme an einer Abtreibung aus Gewissensgründen zu garantieren.

 

Sodann wendet sich das Dokument weiteren medizinisch-ethischen Problemen zu. Klar abgelehnt wird die Verwendung von Gewebe und Organen menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken. Abtreibende Empfängnisverhütungsmittel wie die sogenannte Pille danach, werden ebenfalls klar abgelehnt.

 

In einem eigenen Abschnitt werden die ethischen Probleme der pränatalen Diagnostik besprochen.  „In den Fällen, da die Pränataldiagnostik, einschließlich der Gendiagnostik, dazu bestimmt ist, ein Kind im Stadium der intrauterinen Entwicklung zu behandeln, ist sie ethisch zulässig und unterscheidet sich ihrem Wesen nach nicht von anderen medizinischen Verfahren, die darauf ausgerichtet sind, menschliches Leben zu retten und Krankheiten zu heilen“. In diesem Abschnitt werden ebenfalls die Forschungen am Human-Genom, die pränatale Diagnostik, die Präimplantationsdiagnostik, die Stammzellforschung, das Klonen in verschiedenen Formen, Patente auf Leben sowie die Gentherapie vom orthodoxen Standpunkt aus besprochen.

 

Leider führten die Untersuchungsergebnisse der Pränataldiagnostik nicht selten dazu, dass eine Frau „aus medizinischen Gründen“ eine Abtreibung vornehmen lässt. Nicht selten sind die Frauen dann stärkstem psychischen Druck ausgesetzt. Oft wird dieser Druck von den Ärzten und/ oder dem medizinischen Personal ausgeübt. Die orthodoxe Kirche stellt klar, dass ein „solcher Druck nicht hinnehmbar ist. Das Leben des Kindes muss unabhängig von den Ergebnissen der Pränataldiagnose geschützt werden.“

 

Ebenfalls lehnt die orthodoxe Kirche die Anwendung von Gentestmethoden, die zum Ziel haben, eine Auswahl erwünschter Merkmale des künftigen Kindes (darunter auch seines Geschlechts), strikt ab.

 

Der Schutz des Lebens betrifft das Glaubenszeugnis der heutige Christen genauso, wie es die Christen der Antike betroffen hat. Den emotional und ideologisch aufgeheizten Debatten liegen aber komplizierte Fragen und oftmals nur Fachleuten verständliche Antworten zu Grunde. Es nämlich geht um theologische und philosophisch-ethische Antworten auf biologische und medizinische Fragestellungen. Hier bietet uns das Dokument „Über die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens vom Zeitpunkt der Empfängnis an“ eine profunde Orientierung.

 

Priester Thomas Zmija